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Handlungsfähigkeit bei individueller Handlungsunfähigkeit?

Spätestens an dieser Stelle ist jedoch auf einen gewichtigen Einwand gegen dieses Prinzip einzugehen. Muss dieser Grundsatz nicht zumindest in solchen Kontexten kläglich versagen, in denen Menschen infolge ihrer stark beeinträchtigten Gesundheit gar nicht mehr dazu in der Lage sind, sich durch ein einigermaßen freies, selbstbestimmtes und verantwortliches Handeln als Personen ausdrücken?

Erstens ist davon auszugehen, dass es bezüglich der Möglichkeiten zum Gebrauch der eigenen Handlungsfähigkeit zwar große individuelle entwicklungsbedingte Unterschieden gibt. Doch rechtfertigt die Einsicht in den schrittweisen Aufbau der Handlungsfähigkeit in der Kindheit und Jugendzeit sowie ihrer fortschreitenden Einschränkung im Alterungsprozess keineswegs den Schluss, die Kategorie der „Handlungsfähigkeit“ lasse sich auf bestimmte, den Menschen einschränkende Lebenssituationen gar nicht mehr anwenden. Auch bei einem z. B. durch Alter, Krankheit oder Behinderung in seiner Handlungsfähigkeit stark eingeschränkten Menschen bleibt es ein sinnvolles Kriterium für die ethische Beurteilung, denn vorhandene Teilkompetenzen der Handlungsfähigkeit sollen nach diesem Ansatz möglichst umfassend entfaltet und nicht ohne zwingenden Sachgrund beeinträchtigt oder gar zerstört werden. Zweitens ist im Blick auf den moralischen Status von beeinträchtigen Menschen ausdrücklich daran zu erinnern, dass selbstverständlich auch der z. B. schwer kranke, geistig verwirrte und vielfach behinderte Mensch Träger von Menschenwürde, Inhaber grundlegender Menschenrechte und Instanz der moralischen Verantwortung bleibt, vor der wir unser Handeln an ihm argumentativ zu rechtfertigen haben.

Obwohl der eigentliche Grund der Menschenwürde in der Tatsache besteht, dass der Mensch ein Ich mit eigener Vernunft und damit Initiator freier zurechenbarer Handlungen ist, besteht der Erkenntnisgrund der Menschenwürde letztlich in nichts anderem als der Gattungszugehörigkeit. Die Verfassung bringt diese für die Moral- und Rechtsordnung grundlegende Einsicht durch ein Definitionsverbot der Menschenwürde zum Ausdruck, demzufolge die Würde an nichts anderes als das bloße Menschsein selbst gebunden werden darf. Die Gattungszugehörigkeit ist allein schon deswegen kein bloßes biologisches Datum, weil die „biologische Gemeinschaft der Spezies Homo sapiens … immer auch eine Rechts- und Solidargemeinschaft“ ist, die den Menschen vor anderen artverschiedenen Wesen (Pflanzen, Tiere) auszeichnet. Der Umstand, dass ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt die Fähigkeit zum aktuellen Handeln phasenweise oder dauerhaft verloren hat, schließt ihn nicht aus der Gattungsgemeinschaft aus. Auch dadurch, dass ein Mensch aus welchen Gründen auch immer nicht dazu in der Lage ist, seine eigene Existenz und sein Leben wertzuschätzen, verliert er weder seinen Wert noch seinen Status als Person und Träger einer unveräußerlichen Menschenwürde. Der Besitz von Würde und grundlegenden Menschenrechten darf nicht vom aktuellen Besitz bestimmter physischer oder geistiger Eigenschaften abhängig gemacht werden, weil dies weder der leib-seelischen Einheit des Menschen und seiner personalen Identität gerecht würde.

Das Prinzip der Handlungsfähigkeit weiß sich diesem Erbe verpflichtet, indem es gezielt an dem eigentlichen Sachgrund der Menschenwürde anknüpft und diesen zum Maßstab einer würdevollen Behandlung macht.

Franz-Josef Bormann

 

 

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