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Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos

A3.35a Albert Camus: Freiheit und Verantwortlichkeit angesichts der Erfahrung der absurden Welt. Ein Einblick in einige Passagen aus Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos.

Wesentlicher Ausgangspunkt für seine Überlegungen zu Freiheit und Verantwortlichkeit ist für Camus die Erfahrung der Absurdität des menschlichen Lebens in der Welt. Das entsprechende Gefühl ist für den französischen Philosophen und Romancier oft verborgen, aber nahezu allgegenwärtig.

„Das Gefühl der Absurdität kann an jeder beliebigen Straßenecke jeden beliebigen Menschen anspringen. Es ist in seiner trostlosen Nacktheit, in seinem glanzlosen Licht schwer zu fassen.“ (S. 23)

„Manchmal stürzen die Kulissen [des alltäglichen Lebens] ein. Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe, das meiste ein bequemer Weg. Eines Tages aber stellt sich die Frage nach dem ,Warum‘ und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an.“ (S. 25) An sich ist der Überdruss etwas Widerwärtiges. Jetzt aber gewinnt er eine positive Bedeutung, denn er schafft beim Menschen die Voraussetzung für einen elementaren Bewusstseinswandel.

Die praktische und moralische Vernunft mit ihren „alles erklärenden Kategorien“ (S. 33) behauptet freilich, dass die Welt doch im Grunde völlig vernünftig sei. Diese Haltung leugnet aber die „tiefe Wahrheit“ (S. 33), dass der Mensch in Fesseln liegt. „Zahllose irrationale Größen haben sich erhoben und umschließen ihn bis zu seiner letzten Stunde. In seiner wiedergewonnen, nun auf Übereinkunft begründeten Hellsichtigkeit wird das Gefühl für das Absurde deutlicher. An sich ist die Welt nicht vernünftig, das ist alles, was man von ihr sagen kann. Absurd aber ist der Zusammenstoß des Irrationalen mit dem heftigen Verlangen nach Klarheit, das im tiefsten Inneren des Menschen laut wird. Das Absurde hängt ebenso sehr vom Menschen ab, wie von der Welt. Es ist vorerst das einzige Band zwischen ihnen.“(S. 33f)

Vor diesem Hintergrund bildet sich für Camus die einzig wirkliche Frage der Philosophie, nämlich die Frage, ob das Leben es wert sei, gelebt zu werden. Es ist letztlich auch die Frage nach dem Selbstmord und seiner Legitimität. (Vgl. S.15)

Der Selbstmord scheint nun zwar die einzig konsequente Antwort auf die erlebte Absurdität der Welt und des Lebens zu sein. Aber er „löst“ das Problem nicht. Er bleibt in seinem Gestus des totalen Abbruchs vielmehr auf halbem Wege stehen. Die anscheinende Unbedingtheit des Selbstmordes ist nur eine scheinbare. Denn: „Eine Erfahrung, ein Schicksal auf sich nehmen heißt, es ganz und gar auf sich nehmen.“ (S. 66). „Auf sich nehmen“ bedeutet aber nicht stumpfes Hinnehmen des Schicksals, es bedeutet für Camus Revolte und permanente Auflehnung. Daraus kann man ersehen „wie weit die absurde Erfahrung sich vom Selbstmord entfernt.“ (S. 67). Denn es geht darum in seiner konkret gelebten Existenz eine andere, neue Haltung zu entwickeln, die im Selbstmord eben grade nicht irgendeine „Lösung“ sieht. „Die Auflehnung gibt dem Leben seinen Wert. Erstreckt sie sich über die ganze Dauer einer Existenz, so verleiht sie ihr ihre Größe.“ Und nun kommt auch die Frage ins Spiel, wie Freiheit recht zu verstehen ist. Für Camus ist auch die Freiheit kein abstrakt zu diskutierender Begriff. „Um der Methode treu zu bleiben, kümmere ich mich nicht um das Problem der metaphysischen Freiheit 1 . Zu wissen, ob der Mensch frei ist, interessiert mich nicht. Ich kann nur meine eigene Freiheit erfahren. Von ihr habe ich keine allgemeinen Begriffe. Das Problem der ,Freiheit an sich‘ hat keinen Sinn. Es ist nämlich […] an das Gottesproblem gebunden. Zu wissen ob der Mensch frei, verlangt zu wissen, ob er einen Herrn haben kann. Die besondere Absurdität dieses Problems kommt daher, dass der Begriff selbst, der das Problem der Freiheit möglich macht, ihm gleichzeitig jeden Sinn entzieht. Denn vor Gott gibt es weniger ein Problem der Freiheit als ein Problem des Bösen. Wir kennen die Alternative: entweder wir sind nicht frei, und der allmächtige Gott für das Böse verantwortlich. Oder wir sind frei und verantwortlich, aber Gott ist nicht allmächtig. “ (S. 69) Angesichts dieser Probleme sagt Camus ganz klar: „Ich verstehe nicht, was eine Freiheit sein kann, die mir von einem höheren Wesen geschenkt wird. Ich habe den Sinn für Hierarchie verloren.“ (S. 69) „Die einzige Freiheit, die ich kenne, ist die des Geistes und des Handelns. Das Absurde macht zwar alle meine Chancen einer ewigen Freiheit zunichte, doch gibt es [= das Absurde] mir eine Handlungsfreiheit wieder und feiert sie. Dieser Verlust an Hoffnung und Zukunft bedeutet für den Menschen einen Zuwachs an Beweglichkeit.“ (S. 70)

Auch bei der Frage nach der Begründung von Moral diskutiert Camus kritisch die religiöse Perspektive. Denn die einzige Moral, die zu akzeptieren wäre, wäre für Camus eigentlich eine theonome Moral, also eine Moral, die von Gott abhängig ist. Aber leider lebt der absurde Mensch nun einmal außerhalb Gottes (vgl. S. 83). Deshalb muss ein anderer Ansatz gefunden werden, mit dem Moral und Ethik begründet werden kann.

Dazu führt Camus aus:

Moralität lebt von einer Bewertung von Tatfolgen und deren Einordnung in ein System von ethischen Werten. Der absurde Mensch aber wird jede Bewertung von Tatfolgen ablehnen, sondern er wird sich der Abfolge dieser Taten in fast heiterer Gelassenheit hingeben. „Nicht ethische Regeln also kann der Absurde Geist am Ende seines Nachdenkens erwarten, sondern anschauliche Beispiele und den Atem des menschlichen Lebens.“ (S. 84-85)

Beispiele sind dabei nicht einfach besonders bewundernswerte oder prominente Exempel von moralisch hochstehenden oder prominenten Helden. Wieder wird allein die Frage wichtig: Welches Bewußtsein, welche Haltung hat ein Mensch angesichts des Absurden? „Ein Beamtenanwärter der Post ist einem Eroberer gleich, wenn beide das gleiche Bewusstsein haben.“ (S. 85)

Es geht letztlich auch nicht darum, im Leben nach positiven (ethischen) Werten und deren Lebbarkeit zu suchen. „Ich will zunächst nur von einer Welt reden, in der die Gedanken und das Leben jeder Zukunft beraubt sind ... In der absurden Welt misst der Wert eines Begriffs oder eines Lebens sich an seiner Unfruchtbarkeit.“ (S. 85)

Was soll diese paradox anmutende, positive Bestimmung des auf den ersten Blick Negativen? Camus präzisiert: in diesen Konstellationen (vgl. Zitat von S. 85) baut sich quasi das Kampfgebiet auf, in dem allein der freiheitsstiftende Kampf gegen das Absurde überhaupt erst stattfinden kann. Ausschlaggebend ist dabei eine möglichst große Anzahl von real gemachten Erfahrungen.

Für diese Suche nach einer möglichst großen Zahl von gemachten Erfahrungen findet bei Camus drei Beispiele: Don Juan, der Schauspieler und der Eroberer.

Das erste Beispiel ist Don Juan, der Verführer, der eine möglichst große Anzahl von Liebesabenteuern (vgl. S. 86ff) erleben will. „Don Juan (...) erzwingt den Überdruss. Wenn er eine Frau verlässt, so tut er das keineswegs, weil er sie nicht mehr begehrt. Eine schöne Frau ist immer begehrenswert. Aber er begehrt eine Andere und das ist - wahrlich! - nicht dasselbe.“ „Was Don Juan verwirklicht ist eine Ethik der Quantität - im Gegensatz zum Heiligen, der zur Qualität neigt. Nicht an den tieferen Sinn der Dinge zu glauben, das kennzeichnet den absurden Menschen.“ (S. 89) Es erscheint vielleicht merkwürdig, jedoch: Die Haltung Don Juans wird für Camus zu einem Vorbild einer neuen ethischen Grundhaltung, die in der absoluten Freiheit des Handelns angesichts des Absurden gründet. An anderer Stelle charakterisiert Camus diese Grundhaltung so: „Die einzige Freiheit, die ich kenne, ist die Freiheit des Geistes und des Handelns. Das Absurde macht zwar alle meine Chancen einer ewigen Freiheit zunichte, doch gibt es mir eine Handlungsfreiheit wieder und feiert sie. Dieser Verlust an Hoffnung und Zukunft bedeutet für den Menschen einen Zuwachs an Beweglichkeit.“ (S. 70).

Text: Ulrich Löffler. Zitate aus Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos Hamburg 2020

 


Aufgaben

  1. Ordnen Sie dem Text folgende Überschriften zu : Zur Kritik und Neubegründung von Moral / Auflehnung. Der Kampf gegen das Absurde als Grund und Ausdruck von Freiheit / Begriff und Wirklichkeit des Absurden / Der Absurde Mensch und die Ethik der Quantität
  2. Gestalten Sie zu diesem Text eine Mindmap oder ein Cluster mittels der Methode des Strukturlegens.
  3. Camus Schrift endet mit den Worten: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

    Recherchieren Sie im Internet den Sisyphos-Mythos und erläutern Sie dann die Schlusspassage und den Titel der Schrift von Albert Camus.

 


1 Hinweis: Sein Verständnis des Ausdrucks: „Metaphysische Freiheit“ wird von Camus in den nun folgenden Sätzen erläutert; er will über Freiheit nicht „allgemein“ oder abstrakt reden, sondern nur konkret, im Hinblick auf seine gelebte Existenz. Als „Metaphysik“ bezeichnet man im philosophischen Sprachgebrauch das philosophisch-spekulative Nachdenken über letzte, allgemeine, hinter (unmittelbar) sinnlich erfahrbaren Gegebenheiten der Welt hinausgehende Strukturen und/oder Gesetzmäßigkeiten. Dazu zählen auch Begriffe wie „Freiheit“, „Notwendigkeit“, oder auch „Gott“ etc.

 

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