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Grenzen akzeptieren

Es gibt viele technische Möglichkeiten, die negativen Auswirkungen einer Hörschädigung auf das Hörverstehen, die Kommunikation und das Alltagserleben zu verringern. Dennoch wird es im Leben von Menschen mit Hörschädigung immer wieder Situationen geben, die sie an Grenzen des für sie Möglichen führen. Die Frage ist, wie Kinder und Jugendliche mit einer Höreinschränkung mit diesen „Grenzerfahrungen“ umgehen können, ohne sie als persönliches Scheitern zu erleben. Und eine weitere wichtige Frage ist, was die erwachsenen Personen im Umfeld dieser Kinder und Jugendlichen dazu beitragen können, sie seelisch widerstandsfähig zu machen, damit sie ihren nicht immer einfachen Alltag gut bewältigen und positiv erleben können. Schließlich sollen sie, wie alle Kinder, an ihren Erfahrungen wachsen und nicht daran zerbrechen.

Umgang mit begrenzten Energieressourcen und Misserfolgen

Kinder und Jugendliche mit Hörschädigung leben, was ihren Energieverbrauch angeht, oft „über ihre Verhältnisse“, ohne sich dessen bewusst zu sein. Grob geschätzt verbrauchen gut hörende Schülerinnen und Schüler vielleicht 50 bis 80 Prozent ihrer Energiereserven für die Arbeit in der Schule; bei Schülerinnen und Schülern mit einer Hörschädigung können es erfahrungsgemäß bis zu 100 Prozent und darüber sein, d. h. sie verbrauchen ihre Energiereserven oft nicht nur vollständig, sondern verlangen sich bisweilen mehr Energie ab, als sie tatsächlich haben, was zu körperlichen und geistigen Erschöpfungszuständen führen kann.

Allein die Aufgabe, die Konzentration und die Aufmerksamkeit während des Schultages auf einem hohen Niveau zu halten, führt aufgrund einer vorhandenen Hörschädigung rasch an Grenzen und oft darüber hinaus, da sehr viel mehr Energie für die Sprachaufnahme und die Sprachproduktion aufgewendet werden muss – Energie, die dann nicht mehr für die Verarbeitung von Sprachinhalten zur Verfügung steht. Hinzu kommt, dass auch die Pausen aufgrund hoher Lärmpegel auf Schulhöfen, in Pausenhallen und Mensen für Schülerinnen und Schüler mit einer Hörschädigung oft nicht wirklich erholsam sind.

Grafik: Sprachaufnahme - Sprachproduktion

Grafik erstellt in Anlehnung an eine Grafik in der Broschüre „Hören – Hörschädigung“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Hessen (Hrsg.), 3. Auflage August 2004, S. 40

Wie die betroffenen Kinder und Jugendlichen mit diesen Belastungen umgehen, ist sehr unterschiedlich – da gibt es diejenigen, die sich einfach gedanklich ausklinken und in ihre eigene Welt zurückziehen; bei anderen wiederum äußern sich die „leeren Akkus“ eher in aktiv- oder passiv-aggressivem Verhalten.

Ebenso unterschiedlich sind die Reaktionen auf potentielle Misserfolgserlebnisse, die mit dem eingeschränkten Hörvermögen einhergehen:

  • Ich verstehe trotz Einsatz der Hörtechnik und Nachfragen Schülerbeiträge im Unterricht nicht.
  • Ich habe die Durchsage, dass mein Zug heute ausnahmsweise auf einem anderen Gleis abfährt, nicht verstanden und deshalb die Abfahrt verpasst.
  • Ich kann nicht mitlachen, weil ich den Witz einer Mitschülerin in der Hofpause nicht verstanden habe.
  • Ich kann bei der Familienfeier den Gesprächen beim gemeinsamen Mittagessen im Restaurant nur bruchstückhaft folgen.

Die Reihe solcher kleinen alltäglichen „Grenzerfahrungen“ ist lang. Entscheidend dabei ist, wie solche Erlebnisse von den betroffenen Menschen bewertet werden. Sind es für sie Herausforderungen, die mit Einsatz, Kreativität und einer Prise Humor zu bewältigen sind, oder sind es immer neue Beweise der eigenen Inkompetenz und Hilflosigkeit?

Unsichere Kommunikation und das Gefühl, den Anforderungen des Alltags nicht gewachsen zu sein, erzeugen Stress und sollten nicht zu den ständigen Begleitern von Menschen mit einer Hörschädigung werden. Denn nur allzu schnell entwickelt sich aus diesem Stresserleben die Tendenz, zur eigenen Hörschädigung und der dadurch bedingten Verständigungsproblematik auf Distanz zu gehen und Vermeidungsverhalten zu zeigen: sich isolieren, „unsichtbar“ machen, die Hörhilfen möglichst verstecken oder Zusatztechnik nicht einsetzen, in Gruppen stoisch schweigen oder in Gesprächen an oberflächlichen Inhalten kleben bleiben, die eigenen Kommunikationsbedürfnisse nicht mitteilen, sie womöglich gar nicht kennen – das alles steht der Bildung einer stabilen und selbstbewussten Identität im Wege und gefährdet die psychische und physische Gesundheit. Daher sollte bei Kindern und Jugendlichen mit Hörschädigung eine Auseinandersetzung mit allen Fragen rund um die Hindernisse, die ihr eingeschränktes Hören immer wieder mit sich bringt, möglichst früh angeregt werden, um sie für die Bewältigung der vielfältigen sozialen und kommunikativen Anforderungen des Lebens gut auszustatten.

 

Schülerinnen und Schüler mit einer Hörschädigung: Herunterladen [pdf][7,0 MB]

 

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