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Prolog: Stationen der Hermeneutik

"Hermeneutik ist Reflexion, Systematisierung und Theorie einer bestimmten Konzeption von Textauslegung und Interpretation."

Dorothee Kimmich, Einführungsartikel zum Sammelbad Hermeneutik: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hgg. und kommentiert von D. Kimmich, R.G. Renner, B. Stiegler. Stuttgart: Reclam, 2017. S. 19 – 29, hier S. 19.

So beginnt der überaus lesenswerte Einführungsartikel von Dorothee Kimmich im aktualisierten Reclamband „Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart“ (Stuttgart 2017). Zwei wesentliche Prämissen stellt Kimmich ihrem begrifflichen Abriss voran: Hermeneutik sei keine Formel- oder Regelsammlung, also kein schematisierter Schlüssel zum Schloss der Interpretation. Und: Wer sich mit der Tradition der Hermeneutik beschäftige, für den würden sich die Problemfelder der Verstehenskunst multiplizieren, also keineswegs verringern.

Schüler*innen des Wahlfaches Literatur brauchen trotz jener wissenschaftlichen Differenzerfahrung einen verlässlichen Boden, wenn es um die Hermeneutik geht. Dieser Boden lässt sich über die exemplarische Fokussierung zentraler Etappen der Hermeneutik auf didaktisch reduzierte Art und Weise konstruieren. Der Götterbote Hermes erlaubt es, „Verstehen“ als „Sinnvermittlung“ auf anschauliche Weise zu umreißen. Unterschiedliche Horizonte sind in diesem mythischen Modell der Antike bereits vorhanden (Welt der Götter, Welt der Menschen).

Dazu Kimmich:

„Das griechische Wort hermeneuein bedeutet >aussagen<, >auslegen<, >zum Verstehen bringen<. Oft wird ein etymologischer Zusammenhang mit Hermes, dem Götterboten, angenommen. Erstmals taucht der Begriff bei Plato auf, dort werden die Dichter selbst als hermenes, sozusagen als >Dolmetscher der Götter<, bezeichnet.“

Dorothee Kimmich, Einführungsartikel zum Sammelbad Hermeneutik: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hgg. und kommentiert von D. Kimmich, R.G. Renner, B. Stiegler. Stuttgart: Reclam, 2017. S. 19 – 29, hier S. 20.

Station 1: Christliche Antike und Mittelalter

Während die griechische Hermeneutik vornehmlich mit der Auslegung und Deutung von Homers Epen beschäftigt ist, wandelt sich ihr Gegenstand mit dem Christentum.

„Die Hermeneutik der christlichen Antike und auch des Mittelalters fragt hauptsächlich nach dem Stellenwert des Neuen Testaments und seinem Verhältnis zum Alten Testament. Insbesondere die schon in der klassischen Antike bekannte Praxis der Allegorese, d.h. die Entschlüsselung eines >hinter< dem buchstäblichen Sinn versteckten weiteren oder >höheren< Sinns, wurde favorisiert und schließlich in eine Lehre vom vierfachen Schriftsinn systematisiert und ausgearbeitet. Gegen eine solche Praxis >dogmatischer< Auslegung wandte sich dann der Protestantismus vehement.“

Dorothee Kimmich, Einführungsartikel zum Sammelbad Hermeneutik: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hgg. und kommentiert von D. Kimmich, R.G. Renner, B. Stiegler. Stuttgart: Reclam, 2017. S. 19 – 29, hier S. 20.

Der Aspekt dogmatischer Auslegung lässt sich mit Schüler*innen am Gegenstand der Bibel verdeutlichen. Verweise auf die Schwerpunktlektüre im Basisfach – Brechts „Galileo Glailei“ - mögen helfen, den Unterschied zwischen „wahrer“ und „falscher“ Auslegung des göttlichen Wortes zu thematisieren, zudem die Gefahr dogmatischen Verstehens zu problematisieren. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung der Reformation als Ursprung geisteswissenschaftlicher Auslegungskunst nicht hoch genug anzusetzen.

Station 2: 18. Jahrhundert und Schleiermacher

Schleiermacher gilt als Anfangspunkt einer Systematisierung der Hermeneutik. Mit ihm steigt das Bewusstsein der „historischen Dimension von Interpretation“ sowie vorhandener „Kontextabhängigkeit von Textverständnis“1. Die „historische Dimension aller Auslegung“2 bleibt bis in die Gegenwart hinein unangefochten. Im schulischen Curriculum ist dieser Schritt ab der Klassenstufe 10 fest verankert (exemplarische Epoche in Klassenstufe 10; diachroner Durchgang vom Sturm und Drang bis zur Gegenwart in Kursstufe 1 und 2, zudem Leitepoche Aufklärung). Rückbezüge zur Epoche der Aufklärung mögen es Schüler*innen erleichtern, die grundsätzliche Reflexion der Vorurteilshaftigkeit jeglichen Verstehens zu erläutern. In diesem Zusammenhang lässt sich auch auf den hermeneutischen Zirkel eingehen, was das Verstehen des Einzelnen im Ganzen und das Verstehen des Ganzen vor dem Hintergrund des Einzelnen anbelangt. Leicht lässt sich die Vorurteilshaftigkeit jeglichen Verstehens vor dem Hintergrund deutender Geschichtsbilder in den Schulbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts vermitteln.

Station 3: Philosophische Hermeneutik und Gadamer (1960er-Jahre)

Die Beschäftigung mit Gadamers philosophischer Hermeneutik mag anspruchsvoll erscheinen. Sie ist aber deshalb der Mühe wert, weil Gadamer wie kein zweiter die ganz grundsätzliche Dimension der Hermeneutik als Verstehenskunst jeglichen Seins in den Vordergrund stellt. Gadamer rekurriert in diesem Zusammenhang auf die sprachliche Dimension in allen Verstehensprozessen. Weltwissen bedarf der Sprache, um formuliert und verstanden werden zu können. Darin liegt für Gadamer die existentielle Komponente hermeneutischen Sinnverstehens. Seine philosophische Richtung der Hermeneutik bedeutet eine enorme Aufwertung der Interpretationspraxis:

„Sprachlichkeit ist für Gadamer die Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz. Die Auslegung von schriftlichen Texten ist damit ein Teilbereich dessen, was Verstehen, Erfahrung und Sein überhaupt bedeuten: >Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache<.“

Dorothee Kimmich, Einführungsartikel zum Sammelbad Hermeneutik: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hgg. und kommentiert von D. Kimmich, R.G. Renner, B. Stiegler. Stuttgart: Reclam, 2017. S. 19 – 29, hier S. 25.

Gadamers Modell lässt sich auf Literatur insofern überzeugend anwenden, als literarische Texte auf grundsätzliche Weise menschliche Existenz reflektieren, damit Grundbedingungen des Seins im Gewand etwa von Handlung, Drama, Rede, Versen etc. thematisiert, hinterfragt und gestaltet. Das bedeutet eine Aufwertung des Literatur- und Sprachunterrichts.

Station 4: Gegenwartsströmungen der Hermeneutik

Die bisherigen Stationen der Hermeneutik können mit der schulischen Praxis noch in Einklang gebracht werden Der dogmatische Schriftsinn ist in den Köpfen vieler Schüler*innen doch fester verankert, als es wissenschaftlich hilfreich wäre (Was ist die „richtige“ Interpretation einer Ganzschrift?). Deutschunterricht der Kursstufe bezieht zudem Autorität aus dem Expertenwissen über Epoche, damit bezüglich historischer Kontexte. Im Kanon abiturrelevanter Lektüren nehmen literarische Texte zur existentiellen Identitätsproblematik sowohl bei der Epik als auch bei der Kurzprosa einen recht hohen Stellenwert ein. Das unterstreicht die Bedeutung der philosophischen Hermeneutik.

Die Gegenwartshermeneutik formuliert vor allem Differenzerfahrungen. Zudem multiplizieren sich die Kontexte für die Analyse von Literatur. Deren grundsätzliche Erarbeitung steht dem schulischen Korsett aus vier Wochenstunden Deutschunterricht diametral entgegen. Entmachtet wird in der Gegenwartshermeneutik die Bedeutung des Autors, ermächtigt hingegen der Leser. Die Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule (Hans-Robert Jauss) stellt die ästhetische Bedeutung von Differenz- und Diskrepanzerfahrungen ins Zentrum. Ästhetische Qualität liegt gerade im Verweigern dessen, was der Leser erwartet. Jauss‘ Studien zielten im kritischen Sinne auf eine Rezeptionspraxis, welche Erwartungen bestätigt, anstatt diese zu unterlaufen. Das weist Jauss vor allem über die nivellierende, weil bestätigende Lesart klassischer Werke nach, deren ursprünglich revolutionärer Gestus darüber verloren gehe. Jauss‘ Rezeptionsästhetik zielt darauf ab, „gerade Brüche und Widersprüche zu thematisieren“ 3.

Zentral für die Hermeneutik der Gegenwart ist die „Vieldimensionalität von Texten“4. Dazu gehört, die Kontexte der Intertextualität, Intermedialität und Interkulturalität mit einzubeziehen. Ganz im Sinne postmoderner Philosophie werden Diskurse dekonstruiert, in denen sich ein literarischer Text einordnen lässt. Das multipliziert die Sinnebenen: Diejeingen Aspekte vervielfältigen sich, unter denen ein Werk betrachten werden kann. Das Werk klingt im Konzert anderer Werke.

Nellja Veremejs Roman eignet sich in besonderer Weise, um gerade dieser gegenwärtigen Richtung der Hermeneutik Rechnung zu tragen. Veremej schreibt „Berlin liegt im Osten“ nicht in ihrer Muttersprache. Der im Roman erinnerte Lebensweg der Hauptfigur Lena schlägt einen Bogen weit über den Ural hinweg, bis nach Asien. Darin liegt der interkulturelle Kontext. Hinzu kommt eine dichte intertextuelle Verweisstruktur, in erster Linie zu Chamisso und Döblin, aber auch zu Sebald sowie zur Bibel. Die exemplarische Behandlung im Wahlfach Literatur bietet sich deshalb an.

 

1 Dorothee Kimmich, Einführungsartikel zum Sammelbad Hermeneutik: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hgg. und kommentiert von D. Kimmich, R.G. Renner, B. Stiegler. Stuttgart: Reclam, 2017. S. 19 – 29, hier S. 21.

2 Ebd.,

3 Ebd., S. 26.

4 Ebd., S. 28.

 

Schülerarbeitsblatt

 

Roman: Nellja Veremej: Herunterladen [pdf][1022 KB]

 

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