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Das inklusive Bildungssystem

Vor diesem Hintergrund und in diesem Kontext lässt sich die bildungspolitische Programmatik klären. Der Begriff Inklusion als bildungspolitische Zielsetzung wurde erstmals durch die Salamanca-Erklärung der UNESCO 1994 in die internationale Diskussion gebracht (Biewer, 2010). Die UNESCO versteht in ihren Leitlinien das Programm als einen dynamischen Auftrag: „Inklusion wird also als ein Prozess verstanden, bei dem auf die verschiedenen Bedürfnisse von allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eingegangen wird“ (Deutsche UNESCO Kommission, 2009, S. 9). Inklusion fordert eine qualitativ hochwertige Bildung und Möglichkeiten der Partizipation für jeden Lernenden.

Die UN-Behindertenrechtskonvention greift diese internationale Diskussion auf und fordert grundsätzlich die Anerkennung des Bildungsrechts für Menschen mit Behinderung: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung.“ (Art. 24 Abs. 1 UN-BRK). Die BRK wendet damit den vorliegenden UNESCO-Begriff an: Als eine der marginalisierten und benachteiligten Bevölkerungsgruppen findet die Mehrzahl der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung auf der Welt keine Möglichkeit zu einer staatlich garantierten Bildung vor – Inklusion nimmt die Unterzeichnerstaaten in die Pflicht, solche Bildungsmöglichkeiten zu schaffen. Der erste Weltbericht über Behinderung formuliert dieses Recht sehr prägnant: Inklusive Bildung „is based on the right of all learners to a quality education that meets basic learning needs and enriches lives. Focusing particularly on vulnerable and marginalized groups, it seeks to develop the full potential of every individual“ (WHO, 2011, 304). Inklusion fordert also eine qualitativ hochwertige Bildung, die jedem Lernenden, aber insbesondere benachteiligten Personengruppen, die bestmögliche Chance zur Verwirklichung der individuellen Potenziale anbietet. Die Verwirklichung dieses Rechts stellt viele der Unterzeichnerstaaten vor große Aufgaben, denn 80 % aller Menschen mit Behinderung leben nach diesem Bericht in weniger entwickelten Regionen der Welt und häufig fehlt es dort generell an einer ausreichenden Anzahl von Unterrichtsangeboten und Schulen, insbesondere aber an Bildungsangeboten für Menschen mit Behinderung.

Für die Umsetzung des Menschenrechts auf Bildung setzt die UN-BRK zugleich ethische Vorgaben, die den Verzicht auf Diskriminierung mit dem Begriff des inklusiven Bildungssystems verknüpft: „Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleicheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives [inklusives] Bildungssystem auf allen Ebenen. (Art. 24 Abs. 1 UN-BRK). Das Bil- dungssystem muss hier in seiner umfassenden Bedeutung verstanden werden: Von frühkindlichen Angeboten über die elementarpädagogischen Einrichtungen, Primarschule, weiterführende und berufsbildende Schulen bis hin zu bedürfnisorientierten Angeboten der Erwachsenenbildung, die auch in Deutschland oft fehlen.

So formuliert die UN-BRK den Auftrag, für Lernende mit Behinderungen solche Bildungsangebote bereitzustellen, in denen sie ihr individuelles Potenzial verwirklichen können. Gemäß dem Verständnis der UN-BRK gilt dieser Auftrag für ein lebenslanges Lernen. Was heißt das für die Reform des Bildungssystems?

Die internationale Diskussion konkretisiert ein inklusives Bildungssystem durch vier Prinzipien, das 4-A-Schema (Lindmeier, 2009, S. 7 ff):

  • Availability (Verfügbarkeit): Es existieren funktionsfähige Bildungssysteme mit einer der jeweiligen Kultur entsprechenden Ausstattung und qualifiziertem Personal.
  • Accessibility (Zugänglichkeit): Der Zugang zu allgemeinen Bildungseinrichtungen ist nicht systematisch eingeschränkt, sondern ist für alle ohne Diskriminierung umfassend und unverzüglich zu ermöglichen. Notwendigerweise sind dafür auch die Ressourcen und Unterstützungsangebote bereitzustellen, um dieses Recht auch tatsächlich ausüben zu können.
  • Acceptability (Akzeptierbarkeit): Form und Inhalt der angebotenen Bildung sind für die jeweilige Kultur hochwertig, von anerkannter Bedeutung und angemessen. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass ein gemeinsames Curriculum bestehen sollte, das für alle Lernenden die gleichen, kulturell akzeptierten Inhalte bietet!
  • Adaptability (Adaptierbarkeit): Bildungssysteme müssen gesellschaftliche Veränderungen, die auch auf die Lernenden einwirken, flexibel aufnehmen. Die diskriminierungsfreie Anpassung der Bildungssysteme auf die individuellen Lebenslagen und Persönlichkeiten wird damit ebenfalls gefordert.

Die Forderung nach Zugänglichkeit (Accessibility) besitzt in einem inklusiven Bildungssystem ökonomisch hoch entwickelter Staaten eine besondere Bedeutung: Menschen mit Behinderung erhalten im allgemeinen Bildungssystem die individuell benötigte Unterstützung, die sie für ihre wirksame Bildung benötigen: „Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern.“ ( Art. 24 Abs. 2d UN-BRK). Die notwendigen und nachgewiesenermaßen wirksamen Maßnahmen („effective“) sind also für die Lernenden im allgemeinen Bildungssystem verfügbar. Im Kontext der internationalen Diskussion und angesichts der mit dem Zusatzprotokoll vereinbarten Pflicht zur Evaluation der Fortschritte verlangt diese Aussage, wirksame und effektive Maßnahmen für die Umsetzung des Menschenrechts auf Bildung zu implementieren. Die UN-Konvention spricht explizit von einer wirksamen Verbesserung der Bildungsprozesse durch effektive Maßnahmen im Bildungssystem: „Die Vertragsstaaten ermöglichen Menschen mit Behinderungen, lebenspraktische Fertigkeiten und soziale Kompetenzen zu erwerben, um ihre volle und gleichberechtigte Teilhabe an der Bildung und als Mitglieder der Gemeinschaft zu erleichtern. Zu diesem Zweck ergreifen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen“ (Art. 24 Abs. 3 UN-BRK). Inklusive Bildung erfordert effektive Lern- und Entwicklungsangebote und meint damit eine Gestaltung von Bildungsprozessen, die tatsächlich positive Wirkungen besitzt.

Inklusion fordert eine qualitativ hochwertige Bildung, die jedem Lernenden, aber insbesondere benachteiligten Personengruppen, die bestmögliche Chance zur Verwirklichung der Potentiale nach den individuellen Bedürfnissen anbietet. Dieser Auftrag steht über allen schulorganisatorischen Debatten. Schulorganisatorische Veränderungen verbleiben nach der UN-Konvention in der Hoheit der Unterzeichnerstaaten: „Der Anspruch der inklusiven Bildung [...] ist nicht etwa gleichbedeutend mit der pauschalen Abschaffung des Förder- schulwesens, und es wäre nachgerade absurd, den Begriff der Inklusion zum Vorwand für den Abbau sonderpädagogischer Fachkompetenz zu nehmen. Eine Billiglösung inklusiver Bildung kann und darf es nicht geben“ (Bielefeldt, 2010, S. 67).

 

Inklusion und Lehrkräftebildung: Herunterladen [pdf][1,4 MB]

 

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