Zur Hauptnavigation springen [Alt]+[0] Zum Seiteninhalt springen [Alt]+[1]

Der Gerechtigkeitsbegriff im Stück 2. Akt


von StD Hans Robert Spielmann

Die Hinwendung Ills an die das Rechtsprinzip vertretenden öffentlichen Institutionen soll die Verlässlichkeit auf Recht und Ordnung innerhalb der öffentlich-rechtlichen Verhätnisse erweisen. Ihr Versagen wird in geradezu fatalistisch anmutender Präzision unerbittlich vorgeführt.

Der Polizist als Vertreter der Exekutive zeigt durch seine Reaktion das Manko bürgerlicher Rechtssprechung generell auf: „DER POLZIZIST  Unlogisch. Sie können nicht durch einen Vorschlag bedroht werden, sondern nur durch das Ausführen eines Vorschlags.“ 15 Ein Tatplan allein ist noch nicht strafbar! Der Zynismus seines Verhaltens liegt darin, dass er bereits heftig konsumiert. Seine demonstrativ-wehrhafte Exekutivhaltung ist korrumpiert durch den Goldzahn im Mund. 16 Die anschließende Pantherjagd, auf die der Polizist orientiert ist, nimmt symbolisch die Ermordung Ills vorweg, den das Gesetz im Stich lässt. Die Verlässlichkeit auf die objektive Rechtsordnung ist für das Subjekt Ill nicht mehr gegeben: „ILL  Mich jagt ihr, mich.“ 17 . Aktuelle Parallelen zu den bedrohlichen Folgen für das Rechtsempfinden und die Rechtsordnung selbst durch die Ausrichtung des öffentlichen Lebens auf virtuelle Finanzgeschäfte und Kredite lägen hier sehr wohl auf der Hand.

Der Bürgermeister als Vertreter der Exekutive beginnt trotz seiner Berufung auf die humanistischen Werte und den Rechtsstaat mit der Beugung rechtsstaatlicher Prinzipien, indem er als Erster Verständnis für das Anliegen Claires aufbringt: „DER BÜRGERMEISTER  Das Vorgehen der Dame ist weiß Gott nicht ganz so unverständlich. Sie haben schließlich zwei Burschen zu Meineid angestiftet und ein Mädchen ins nackte Elend gestoßen.“ 18 Ills Haltung nennt er „nihilistisch“ 19 und weiter: „Sie besitzen nicht das moralische Recht, die Verhaftung der Dame zu verlangen, und auch als Bürgermeister kommen Sie nicht in Frage.“ Dies sagt er „Im Auftrag der Parteien“, also der Öffentlichkeit. 20 Gerechtigkeit wird durch den Bürgermeister und die Öffentlichkeit in Güllen ab jetzt ideologisch funktionalisiert unter Berufung auf die eigene Moral mit dem Ziel, Ills Opfertod als moralisch notwendig hinzustellen. Der erste Schritt ist die Herauslösung Ills mit seinem vermeintlich subjektiven Gerechtigkeitsempfinden aus der Gemeinschaft, die ein vermeintlich objektives Gerechtigkeitsempfinden, also das objektive Recht, verbindet. Die grenzwertige Vermischung von Recht und moralischem Empfinden gelingt nicht zuletzt deshalb, weil die Judikative ihre Aufgabe der rechtlichen Überprüfung der Argumente nicht wahrnehmen kann: Der Richter wurde von Claire bereits sehr zielbewusst gekauft. Dass somit das Rechtsprinzip, das die Güllener für sich reklamieren, bereits korrumpiert, weil erkauft ist, noch bevor sie durch ihr eigenes Konsumverhalten den Beweis dafür antreten, wird verschwiegen. „DER BÜRGERMEISTER  Daß wir den Vorschlag der Dame verurteilen, bedeutet nicht, daß wir die Verbrechen billigen, die zu diesem Vorschlag geführt haben. Für den Posten eines Bürgermeisters sind gewisse Forderungen sittlicher Natur zu stellen, die Sie nicht mehr erfüllen, das müssen Sie einsehen.“ 21

Die groteske Argumentation, zwecks Rechtfertigung eigenen unmoralischen Verhaltens gegenüber einem Menschen diesem selbst Unmoral vorzuwerfen, wird möglich durch die Auslieferung des Rechtsprinzips an eine ‚moralische’ Empfindungsweise, die korrupt ist. Ills Tod ist bereits beschlossen, weil der Bürgermeister schon das öffentliche Stadthaus mit den Geldern von Claire plant. Das öffentliche Bewusststein, das für die Erhaltung moralisch verbindlicher Maßstäbe sorgen soll, ist korrumpiert. Der Versuch, den Vorgang von der öffentlichen Diskussion vorläufig noch fernzuhalten, zeigt, dass die Güllener sich nicht mehr öffentlich rechtfertigen wollen; das Gemeinwohl ist zur Funktion des ökonomischen Interesses geworden. Die sarkastische Klage des Gatten VIII über die Atmosphäre in Güllen, „Sattheit, Gemütlichkeit. Keine Größe, keine Tragik. Es fehlt die sittliche Bestimmung einer großen Zeit.“ 22 ist wörtlich zu nehmen: Wo die sittliche Verlässlichkeit der Gemeinschaft fehlt, wird dem Individuum Größe und Tragik vorenthalten – eine Erkenntnis, die ganz der Dürrenmattschen Komödientheorie entspricht.

Das Gerechtigkeitsempfinden des Pfarrers, des Vertreters moralisch-sittlicher Verbindlichkeit, ist transzendent: „Man soll nicht die Menschen fürchten, sondern Gott, nicht den Tod des Leibes, den der Seele.“ 23 Er liefert kirchliche Formeln in einer materialistisch geprägten Welt und individuelle Schuldzuweisung, indem er durchaus systemimmanent Ill zum armen Sünder stempelt: „Kümmern Sie sich um die Unsterblichkeit Ihrer Seele.“ 24 Sein Rat: „Durchforschen Sie Ihre Gewissen. Gehen Sie den Weg der Reue, sonst entzündet die Welt Ihre Furcht immer wieder. Es ist der einzige Weg. Wir vermögen nichts andres.“ 25 Doch auch der Pfarrer ist korrumpiert durch die Anschaffung der zweiten Glocke, die er auf die menschliche Schwachheit zurückführt, welche er Ill allerdings in seiner Doppelmoral nicht zu vergeben vermag. Seine erste und einzige menschliche Regung in dem Gespräch führt zu dem Rat an Ill zu fliehen und sich damit aus der Gesellschaft zu entfernen: „Flieh, führe uns nicht in Versuchung, indem du bleibst.“ 26 Hiermit ist die Schuld für sündhaftes Verhalten an Ill allein überwiesen, die Gesellschaft exkulpiert sich selbst; die reale Tötung des Panthers im Hintergrund nimmt die Tötung Ills vorweg.

In der Balkonszene scheint Ill sein Recht in die eigenen Hände nehmen zu wollen, indem er Claire zu erschießen droht (Parallele zu Kohlhaas). Er scheitert an der Erinnerung, am eigenen schlechten Gewissen, das –bereits vom Pfarrer angelegt- durch den Rückblick Claires evoziert wird. Ähnlich der vom Tod überschatteten Balkonszene in Shakespeares Romeo und Julia wird hier das schlimme Ende Ills besiegelt. Die Entscheidung ist gefallen, Claire kündigt den Transfer von einer Milliarde an. 27 Ills „Passion“ 28 beginnt, indem er ab sofort als Einzelner dem Kollektiv der Güllener gegenübersteht, das sich zur allein verbindlichen öffentlichen Instanz gemacht hat durch Abschottung nach außen. Die Güllener repräsentieren das Rechtssystem, indem sie die sittlich-moralische Leitfunktion für sich beansprucht und durchgesetzt haben.

Ills letzter Versuch, eine übergeordnete Rechtsinstanz zu kontaktieren („Ich schrieb dem Regierungsstatthalter nach Kaffigen.“ 29 ) wird vom Postbeamten und Stadtrat (!) unterbunden. Gegen die vermeintliche sittliche Ordnung hat der Einzelne keine Chance; Ill muss seine Unterlegenheit akzeptieren. In Anspielung auf die Passion Christi fällt er auf die Knie und bricht danach ein zweites Mal unter seinem Kreuz zusammen.

 


15 Ebda., 63.
16
Vgl. ebda., 65.
17 Ebda., 66.
18 Ebda., 70.
19
Vgl. ebda., 69.
20
Ebda., 70.
21
Ebda., 70 f.
22
Ebda., 73.
23
Ebda., 74.
24
Ebda, 75.
25
Ebda.
26
Ebda., 76.
27
Vgl. ebda., 79.
28
Vgl. Regieanweisung mit Plakat „Besucht die Passionsspiele in Oberammergau“, ebda., 80.
29
Ebda., 81.