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Begriffsklärung


von StD Hans Robert Spielmann

„Gerechtigkeit“ ist laut Bekunden Friedrich Dürrenmatts in seiner tragischen Komödie Der Besuch der alten Dame ein „Problem“. In einer Äußerung über seine Oper Frank V. sagt der Autor: „Überhaupt ist die Freiheit das eigentliche Problem des Stückes, und nicht die Gerechtigkeit wie in der ‚Alten Dame’.“ 1 Dieses Motiv hat Affinitäten sowohl zu Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas wie zu Franz Kafkas Der Proceß .

Insbesondere die Novelle von Kleist bietet einen recht schnellen Zugriff auf den Gerechtigkeitsbegriff. Das Streitgespräch zwischen Kohlhaas und Martin Luther zeigt geradezu modellhaft die Differenzierung zwischen den Begriffen Recht und Gerechtigkeit auf. 2 Während Luther im Sinne des Rechtsprinzips argumentiert, das die formale, positive Rechtssetzung und –aufsicht durch die Gemeinschaft und den Staat betont, will Kohlhaas mittels moralisch begründeter Gesinnung Gerechtigkeit erlangen. Er fühlt sich durch Rechtsversagung aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, während für Luther die Gemeinschaft noch nie jemanden verstoßen hat; Ungerechtigkeiten entstehen durch subjektive Fehler und müssen um der Staatsraison willen akzeptiert werden. Für Kohlhaas hingegen ist das höchste Ziel der Rechtsfindung naturrechtlich begründet: Die Gemeinschaft muss dem Individuum jederzeit Gerechtigkeit widerfahren lassen. Das positive Recht Luthers ist von Machtausübung gekennzeichnet, während das Naturrecht von den Ansprüchen des Individuums ausgeht und mithin moralisch begründet ist.

In Franz Kafkas Der Proceß geht es prinzipiell um das Spannungsverhältnis zwischen den Normerwartungen positiver, hier anonymer Rechtssetzung und dem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden eines Josef K. 3 Der Roman lebt zu weiten Teilen von dem vergeblichen Versuch K.s, die vom Rechtsprinzip vorgegebenen, undurchschaubaren Fakten zu erklären, indem er sie mit seinem eigenen Rechtsempfinden in Einklang zu bringen versucht. Dass dabei die Schuldfrage immer stärker in den Vordergrund rückt, ergibt sich aus der Affinität des naturrechtlichen Gerechtigkeitsansatzes mit moralisch zu begründenden Gesinnungsaspekten: K. verstrickt sich immer weiter in der Suche nach subjektivem, schuldhaftem Verhalten und verurteilt sich damit –typisch kafkaeske Ironie- desto mehr selbst, je stärker er seine Unschuld zu beweisen trachtet nach der formalrechtlich logischen Devise , wenn eine Anklage erfolgt, dann muss irgendwo auch eine Schuld vorliegen.

Eine rechtsphilosophische Vertiefung der Problematik könnte zu folgendem Ergebnis kommen: Die Rechtsregeln, das positive Recht , sind positiv gesetzt, veränderbar; eine Missachtung führt zur Bestrafung; sie sind einklagbar, erzwingbar. Sie regeln das äußere Verhalten (Position Luthers bzw. die kategorische Verbindlichkeit der anonymen Staatsmacht, die K. anklagt). Moralische Regeln, das naturrechtliche Prinzip , sind allgemein gültig, dauerhafter. Eine Missachtung bewirkt Missbilligung, stellt jedoch ihre Richtigkeit nicht in Frage. Sie verlangen eine moralische Gesinnung. 4 In einer offenen Gesellschaft wirken moralische Normvorstellungen bis zu einem gewissen Grad permanent auf die Gesetzgebung im Rahmen gesellschaftlicher Werteverständigung ein. Insofern übernimmt der Bereich der Moral eine Art Gelenkfunktion zwischen dem Rechtsempfinden und dem Rechtsprinzip . 5 Nicht so in einer Feudalgesellschaft zu Zeiten eines Michael Kohlhaas oder in einer anonymen, autoritär strukturierten Gesellschaft eines Josef K. Beide, Kohlhaas und K., werden mit ihrem Gerechtigkeitsempfinden im wahrsten Sinne des Wortes durch den rechtsverbindlichen Rigorismus ihrer Gesellschaftsform an die Wand gedrückt .

Aber auch mit einem kleinen Text von Dürrenmatt selbst lässt sich die Relevanz der Thematik weiter vertiefen. In einer 1969 gehaltenen Rede vor Juristen mit dem Titel Über die Gerechtigkeit erzählt er eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht nach, in der er das Spannungsverhältnis zwischen positivem Recht und Naturrecht , mithin die Relativität des Gerechtigkeitsbegriffs, betont. 6 Am Ende des kurzen Geschehens weiß eigentlich nur Allah, was wirklich gerecht ist; die subjektive Sicht der Protagonisten auf die Gerechtigkeit ist beschränkt. Liest man nun Dürrenmatts Äußerung im Zusammenhang mit seiner Oper Frank V. , dass das eigentliche Problem des Stücks Der Besuch der alten Dame die Gerechtigkeit sei, vor dem Hintergrund der Geschichte aus Tausendundeiner Nacht , dann lässt sich unschwer erkennen, dass Dürrenmatt hauptsächlich die moralische Problematik des Gerechtigkeitsbegriffs, die mit Gesinnungen und ethischen Grundeinstellungen zu tun hat, interessiert haben dürfte und dass dies das eigentliche Thema seiner tragischen Komödie ist.

 



1 Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern, München 3. Aufl. 1976, 128 (dtv 680).
2 Vgl. Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas, Stuttgart 2003, 43 ff. (Reclam 218).
3 Vgl. Franz Kafka, Der Proceß, Stuttgart 1995 (Reclam 9676).
4 Vgl. dazu auch Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In: Süddeutsche Juristen-Zeitung, 1946, 103 ff. Zit. Nach Standpunkte der Ethik. Oberstufe. Hrsg. von Hermann Nink, Paderborn 2000 (Schöningh 250027), 277 f.
5 Vgl. Günther Patzig, Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 1971, 11-15 (Vandenhoeck & Ruprecht).
6 Friedrich Dürrenmatt, Philosophie und Naturwissenschaft. Essays und Reden, Zürich 1986, 38 (Diogenes). Zit. nach Nink, 282.

http://refugiumdeswissens.wordpress.com/2008/09/24/friedrich-durrenmatt-uber-die-gerechtigkeit/ (Stand 4.7.2010)