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Fachwissenschaftliche Hintergründe

Gegenwärtig leben wir in einem durch die modernen Naturwissenschaften geprägten Zeitalter. Manche Wissenschaftler und Philosophen wie Neodarwinisten, Neurodeterministen, Soziobiologen, evolutionäre Erkenntnistheoretiker, Vertreter von „brain cause minds“-Theorien oder radikale Konstruktivisten leiten daraus den Anspruch ab, ein neues, naturalistisches Menschenbild zu verkünden. Der Begriff „Naturalismus“ dient zur Bezeichnung einer philosophischen Position bzw. Weltanschauung, die meint alle Vorgänge, d. h. nicht nur physische, sondern auch mentale mithilfe der Naturwissenschaften vollständig beschreiben und erklären zu können. Erfolgt dieses in der Sprache der Physik, spricht man von einem Physikalismus, erfolgt dieses in der Sprache der Biologie, liegt ein Biologismus vor. Alle naturalistischen Positionen basieren auf der Prämisse, dass sich das Bewusstsein durch neurophysiologische Mechanismen erklären lässt. Mentale Sachverhalte lassen sich aber, das hat zum Beispiel Thomas Nagel in seinen Arbeiten zur Philosophie des Geistes herausgearbeitet, nicht auf rein naturwissenschaftliche Vorgänge zurückführen. Mit anderen Worten der Naturalismus scheitert am Qualiaproblem. Wie phänomenale Zustände erlebt werden, lässt sich nur aus der subjektiven Innenperspektive beschreiben. Ein neuronaler Reduktionismus, der die Naturalisierung des Geistes durch die Neurowissenschaften behauptet, scheitert auch am Intentionalitätsproblem. Zwar lassen sich intentional strukturierte Bewusstseinszustände wie Gedanken erforschen, indem die den Gedanken korrespondierenden oder korrelierenden neuronalen Prozesse bestimmt werden, diese sind aber selbst nicht intentional strukturiert. Folglich lässt sich Intentionaliät nicht auf neuronale Vorgänge reduzieren.

Diese Probleme werden von Vertretern des Neurodeterminismus ausgeblendet, einer neueren Variante des Determinismus, nach der menschliches Denken und Wollen vollständig durch Naturgesetze bestimmt ist. Einzelne Neurowissenschaftler verbreiten in der Öffentlichkeit die These, dass Experimente der Hirnforschung, insbesondere die von Benjamin Libet, eindeutig belegt hätten, dass die menschliche Willensfreiheit eine Illusion sei. Damit formulieren sie einen Angriff auf das traditionelle Menschenbild, das von der menschlichen Willensfreiheit als Grundlage von Moralität und damit der Bedingung der Möglichkeit von Ethik ausgeht. Willensfreiheit meint im Unterschied zur Handlungsfreiheit, dem Vermögen das tun zu können, was man will, die Fähigkeit, seinen eigenen Willen, seine eigenen Entscheidungen trotz aller determinierender Faktoren selbst zu steuern bzw. zu bestimmen. Eine freie Entscheidung liegt dann vor, wenn genau drei Kriterien erfüllt sind, nämlich der Urheber der Entscheidung die handelnde Person ist, diese über alternative Möglichkeiten verfügt, d. h. über Wahlfreiheit, und die Entscheidung von ihr autonom, d. h. nicht vollständig durch externe oder interne Faktoren bestimmt wird. Im Unterschied zu Immanuel Kant, der mit seiner „absoluten Freiheit“ ein starken Willensfreiheitsbegriff entwickelte, wird in der gegenwärtigen Philosophie ein schwaches Konzept von Willensfreiheit präferiert, nach dem der Mensch aufgrund seiner genetischen und biographischen Erbes nur über eine bedingte Freiheit verfügt. Damit wird zugleich ein Kompatibilismus von Willensfreiheit und Determinismus vertreten.

Überwiegend stützen sich die Neurodeterministen bei der Begründung ihrer Position auf die Experimente des Neurophysiologen Benjamin Libet, die zeigen, dass 400 Millisekunden vor Bewusstwerden der Handlungsabsicht ein unbewusster Willensprozess eingeleitet wird. Manche Naturwissenschaftler interpretieren diese Ergebnisse deterministisch, obwohl Libet sich gegen eine solche Deutung gewandt hat und nachweisen konnte, dass 150 Millisekunden vor dem Bewusstwerden der Handlung, die Versuchsperson noch ein Veto gegen diese einlegen kann. Die Ergebnisse der Libet-Experimente taugen auch aus anderen Gründen nicht zur Widerlegung der Willensfreiheit. Das Setting des Experiments misst keine freie Entscheidungssituation, da der Proband keine Wahl hatte die Hand nicht zu heben. Gegen den neuronalen Determinismus lassen sich auch erkenntnistheoretische, logische, ethische, rechtsphilosophische, anthropologische Argumente und Argumente einer Philosophie des Geistes anführen: die Messungenauigkeiten, der „lokalisatorische Fehlschluss“(Thomas Fuchs), der Kategorienfehler (Vermischung unterschiedlicher Perspektiven) – Freiheit und Unfreiheit ist nicht im Gehirn zu lokalisieren und auch nicht empirisch widerlegbar –, der performative Selbstwiderspruch jeglicher Determinismusvariante, der Wegfall der Voraussetzung von Moralität und damit der Möglichkeit von Ethik überhaupt, der mit der Leugnung von Willensfreiheit implizierte Verzicht auf Schuldfähigkeit und damit verbunden die Gefahr eines neuen, inhumanen Strafrechts. Zu kritisieren am neuronalen Determinismus sind auch seine Reduzierung des Menschen auf sein Gehirn, sein am Mensch als Maschine orientierte, schon von Julien Offray de La Mettrie 1748 vertretene materialistische Menschenbild, seine Verwechselung von Gründen und Ursachen, sowie das Scheitern der Naturalisierung des Geistes am Qualiaproblem und am Intentionalitätsproblem.

So lassen sich gute Gründe für ein humanes, modernes Menschenbild anführen, für das konstitutiv ist, dass Personen sich zumindest eine bedingte Willensfreiheit zusprechen. Demnach können sich Menschen in ihrem Urteilen und Handeln von Gründen leiten lassen und sind verantwortlich für ihre Entscheidungen und Handlungen. Antihumanistische Positionen wie Neurodeterminismus, Fundamentalismus oder Neoliberalismus eint die Leugnung menschlicher Willensfreiheit und damit der Verantwortlichkeit des Menschen. Diese Fähigkeiten werden dem Menschen im Unterschied zu einem naturalistischen Menschenbild zugesprochen, wenn er als Kulturwesen, das er von Natur aus ist, gewürdigt wird. Dabei wird der Mensch als deutendes, beurteilendes und kreatives Wesen begriffen, das sich im Modus einer reflexiven und sinnhaften Intentionalität bewegt. Erst durch den hermeneutischen, nicht szientistischen Modus der Welterschließung kann der Mensch Kultur als den „Prozess der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen“(Ernst Cassirer) erfahren. Einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung eines autonomen Individuums und zum moralischen Fortschritt leistet dabei die Aufklärung, welche eine Bildung zur Mündigkeit einschließt, die auch dazu beitragen kann, in der Öffentlichkeit verbreitete und popularisierte Neuromythologien aufzudecken.

 

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