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Sachanalyse

Nach John Rawls hat ein vernunftgeleiteter Mensch keinen Neid, jedenfalls dann nicht, wenn er die Unterschiede zwischen sich und den anderen nicht als ungerecht empfindet und diese sich in gewissen Grenzen halten 1.

Die Frage ist, was ist ungerecht und Gefühle wie Neid oder gar Empörung demnach verständlich, und was ist vielmehr Pech oder Unglück? Intuitiv scheint die Antwort für viele klar: Ist die Situation durch nicht-menschliche Ursachen entstanden, so handelt es sich um ein Unglück, hat jedoch ein menschliches Wesen die Situation herbeigeführt, so handelt es sich um Ungerechtigkeit. Für Judith N. Shklar ist diese scheinbar klare Trennlinie allerdings bedeutungslos, für sie schließt die Unterscheidung zwischen Unglück und Ungerechtigkeit oftmals „die Bereitschaft und unsere Fähigkeit ein, im Interesse der Opfer zu handeln oder nicht zu handeln, anzuklagen oder freizusprechen, zu helfen, zu lindern oder wiedergutzumachen oder sich einfach abzuwenden“ 2.

In Bezug auf die nationale und globale Besitz- und Einkommensverteilung, lassen sich die großen Unterschiede nach der allseits bekannten (Gerechtigkeits-) Formel „Jedem das, was er verdient“ zunächst scheinbar stimmig erklären. Doch ist dies ein ausreichendes Kriterium für Gerechtigkeit? Für Amartya Sen bei Weitem nicht. Für ihn spielen neben der gleichen Berücksichtigung der Leistung, auch die Bedürftigkeit und die Ausbildung (potentieller) Fähigkeiten eine zentrale Rolle. Das Problem der relativen Armut zeigt in besonderem Maße die Relevanz gleicher Berücksichtigung spezifischer Bedürfnisse, wobei diese bei relativ armen Menschen oft unerfüllt bleiben, egal ob die Armut selbstverschuldet ist oder nicht. Durch fehlende Chancengleichheit in der Bildung können arme Menschen (insbesondere Kinder), wichtige Fähigkeiten nicht im gleichen Maß ausbilden wie andere 3.

Dadurch haben sie es schwerer, „erfolgreich“ im Arbeitsleben zu sein und ein entsprechendes Gehalt zu verdienen.

Doch warum handelt es sich eben nicht um bedauerliche Ungleichheiten, sondern um unhaltbare Ungerechtigkeit und damit um ein ethisches Problem? Für Christian Neuhäuser stellt es eine Bedrohung der menschlichen Würde dar, wenn auf gleiche Berücksichtigung von Bedürftigkeit, Entfaltung der Fähigkeiten und Leistung kein Wert gelegt wird. Die Würde des Menschen besteht für ihn nicht nur darin, bestimmte Grundrechte zu besitzen, sie beruht auch darauf, als gleichrangiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden. Dafür müssen aber die Voraussetzungen zur Teilhabe, zum „Interagieren“ gegeben sein. Wenn durch zu wenig Einkommen keine Mobilität, keine Freizeitgestaltung, keine Inanspruchnahme von Dienstleistungen (z.B. Friseur), kein Besitz bestimmter Güter (digitale Medien)möglich ist, ist auch eine Teilhabe nicht ausreichend möglich. 4.

Zudem müssen sich für eine funktionierende Demokratie die verschiedenen Akteure auf Augenhöhe begegnen können. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen grundsätzlich als gleichrangige Mitglieder der Gesellschaft fühlen müssen. Je stärker sich eine Gesellschaft in zwei Klassen (z.B. Arm und Reich) aufspaltet, desto weniger können sich die Mitglieder der untergeordneten Klasse als gleichberechtigt fühlen. Demokratie wird dann im schlimmsten Fall zur Privatsache einer privilegierten Gesellschaftssicht 5.

Es drängt sich die Frage auf, inwieweit der Staat verpflichtet ist einzugreifen, ungleiches Einkommen oder Besitz umzuverteilen und damit für ein gutes bzw. besseres Leben seiner Bürger zu sorgen. Robert Nozick führt mit seiner Anspruchstheorie 6 lediglich drei Hauptgegenstände der Gerechtigkeit bei Besitztümern auf: den Grundsatz der gerechten Aneignung, den Grundsatz der gerechten Übertragung und die Berichtigung ungerechter Besitzverhältnisse. Nur, wenn gegen einen dieser Grundsätze verstoßen wurde, ist ein staatlicher Eingriff zu rechtfertigen. Auch für F.A. Hayek 7 ist Freiheit „höchstes Gut“ und jeglicher staatlicher Eingriff eine Beschränkung derselben.

Ganz anders wird dies etwa von John Rawls oder Martha Nussbaum gesehen, wobei Nussbaum die Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls durch ihre Beschränkung auf eine gerechte Verteilung von Gütern als unzureichend kritisiert um die Basis für ein gerechtes und damit gutes/menschenwürdiges Leben zu schaffen 8.

Eine konkrete Idee, die insbesondere durch Erbschaften zementierten Besitzverhältnisse aufzuweichen, liefert z.B. Daniel Halliday durch eine besondere Form der Besteuerung 9.

Vorausgesetzt man hält zu viel Reichtum für schädlich, sowohl für sich selbst (vgl. Aristoteles) als auch für das Zusammenleben in einem Staat bzw. weltweit (vgl. Neuhäuser).

In der Diskussion um (Un-)Gerechtigkeit kann neben der Bedeutung der Freiheit, auch die Frage nach (globaler) Verantwortung nicht außen vor gelassen werden 10.

So besteht für Peter Singer 11

eine Verpflichtung zu helfen, die unabhängig von spezifischen Werten und ethischen Prinzipien ist. Es geht vielmehr um eine kollektive Verantwortung, wobei er vor allem die Menschen der Industriestaaten „in der Pflicht“ sieht.


1 John Rawls: Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1975, S.575

2 Judith N. Shklar: Über Ungerechtigkeit. Berlin (Rotbuch) 1992, S. 9

3 C. Neuhäuser u. J .Müller in: Handbuch Angewandte Ethik: Zur normativen Bedeutung ungerechtfertigter Ungleichheiten, Stuttgart (Metzler) 2011, S.307/308).

4 An dieser Stelle wäre es möglich auf verschiedene Begründungen von Menschenwürde einzugehen Bildungsplan 3.4.2.1 (5).

5 C. Neuhäuser: Wie reich darf man sein? Über Gier, Neid und Gerechtigkeit. Ditzingen (reclam jun.) 2019.

6 R. Nozick: Anarchie, Staat, Utopia. München (Olzog) 2006.

7 F.A.Hayek: Die Verfassung der Freiheit. Tübingen (Mohr Siebeck) 2005.

8 M.Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2018.

9 D. Halliday: The Inheritance of Wealth. Justice, Equality and the Right to Bequeath. Oxford 2018

10 Zur Bedeutung der Leitbegriffe Gerechtigkeit, Freiheit und Verantwortung siehe auch Bildungsplan Ethik 2016

11 Peter Singer: Praktische Ethik. Stuttgart (reclam) 1994

 

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