Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven
Huchs Briefnovelle lässt sich in die Strömung der Neoromantik einordnen. Sie kann als Unterhaltungs- und Kriminalgeschichte, aber auch als psychologische Studie gelesen werden. Ein zentrales Thema der Brieferzählung ist der Generationenkonflikt, wonach sich die jüngere Generation, repräsentiert durch die Kinder des Gouverneurs, in unterschiedlicher Intensität von den despotischen politischen Maßnahmen des Vaters als Vertreters des zaristischen Reiches zu distanzieren beginnt. Dies geschieht trotz der ungebrochenen Liebe zu den Eltern. Deutlich wird dies wird etwa in den Briefen Weljas an Peter. Ferner dokumentieren auch die Briefe von Ljus an Konstantin, die Streitgespräche zwischen Katja und ihrem Vater bezüglich der Universitätsschließungen, in deren Verlauf Katja die Aufständischen sogar als „Märtyrer“ bezeichnet. Die Tochter zeigt sich politisch eigenständig und opponiert gegen den übermächtigen Vater. Bezeichnenderweise wird im Gesprächsverlauf auch deutlich, dass der Vater Ljus Kritikpunkte, wonach das Pflichtgefühl der Menschen sich aufgrund zu vieler Gesetze nicht ausbilden lasse, unterschätzt. Der Vater zeigt sich während der gesamten Novelle weniger als Privatperson denn als Vertretung der Regierung (vgl. Staitscheva 1997). Demgegenüber trägt der „Rebell“ Liu „Züge moderner bürgerlich-intellektueller Weltempfindung“ (Staitscheva 1997), seine Haltung ist von Schopenhauer und Nietzsche geprägt (vgl. Staitscheva 1997). Ferner sind in der Figur des Attentäters Züge von Karl Marx und Michael Bakunin zu entdecken (vgl. Staitscheva 1997). Das Besondere an ihm ist, dass er als kritischer Anarchist stets in Distanz zu sich und zu seiner Umwelt bleibt und gerade nicht aus rein sozialen Motiven heraus handelt, sondern vielmehr Selbstbestätigung sucht (vgl. Ba 1974).
Am Rande der Brieferzählung wird die Begeisterung der Kinder für die Musik Richard Wagners erwähnt, die der Vater hingegen kategorisch ablehnt, wohl weil sie ihm ein Ausdruck von Ungehorsam und ein Ausdruck des neuen Zeitgeistes ist. Schließlich war Wagner selbst ein aktiver Unterstützer der Umsturzversuche in Dresden und Wien im Jahr 1948. Wagner war mit Bakunin bekannt, der wiederum dessen Musik sehr schätzte.
Die Mutter nimmt im Figurenensemble eine Sonderposition ein, da sie „das Motiv des Intuitiven und Unbewußten“ (Staitscheva 1997) verkörpert, ebenso zeigen sich in ihrem Empfinden und Verhalten typische dekadente Angstempfindungen um 1900 (vgl. Staitscheva 1997), wonach das Geschehen eine fatalistische Note verliehen bekommt.
Das in der Brieferzählung häufig verwendete Sonnenmotiv passt zum Titel „Der letzte Sommer“, der die Sommerszenerie vorgibt. Der Hinweis darauf, der der Sommer „der letzte“ sei, verweist bereits auf den Niedergang des zaristischen Regimes. Mit dem Gouverneur stirbt auch das alte System.
Zugleich suggerieren die vielen Vergleiche mit Naturelementen die Naturhaftigkeit der Geschehnisse. Am Ende artikuliert Lju passend hierzu seine Lebensweisheit: „Das alles verdammt ist zu vergehen, indem es entsteht, das ist die einzige Tragik des Lebens.“
Die Besonderheit der Erzählung, zahlreiche Briefe von verschiedenen Figuren aufeinanderfolgen zu lassen, eröffnet durchgehend eine Multiperspektivität auf das Geschehen. Das Medium Brief bietet eine authentische und unmittelbare Wiedergabe der Gedanken und Gefühle der einzelnen Figuren.
Textausgaben:
Ricarda Huch: Der letzte Sommer. Eine Erzählung in Briefen. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart und Leipzig 1910.
Ricarda Huch: Der letzte Sommer. Eine Erzählung. Leipzig 1920.
Ricarda Huch: Der letzte Sommer. Eine Erzählung in Briefen. Berlin 2019.
Huch: „Der letzte Sommer“: Herunterladen [pdf][175 KB]
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