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Inhalt

Auch wenn die Aufzeichnungen weder eine chronologische noch sonst kausal verknüpfte Erzählstruktur aufweisen, so lässt sich ein rudimentäres Handlungsgerüst rekonstruieren: Malte befindet sich zu der Zeit, in der er seine Aufzeichnungen niederschreibt, im Paris kurz nach der Jahrhundertwende. Die Eindrücke von der Großstadt überwältigen den 28-jährigen Malte. Er nimmt besonders ihre hässliche, abstoßende Seite wahr. Die äußeren Sinneseindrücke finden eine Resonanz in seinem Inneren und bewirken zunächst eine veränderte Wahrnehmung, die Malte als ,Sehenlernen‘ charakterisiert, schließlich aber auch eine Veränderung seiner Persönlichkeit bzw. eine Selbstentfremdung. Insbesondere die „Fortgeworfenen“, d.h. die Randexistenzen der Gesellschaft wie Bettler, Arme und Prostituierte, ziehen Maltes Aufmerksamkeit auf sich, fürchtet er sich doch davor, selbst zu den Fortgeworfenen zu gehören. Verschiedene Erkennungszeichen jener, die Malte wahrzunehmen glaubt, scheinen dies nahezulegen. Schließlich befindet sich Malte als verarmter Abkömmling eines dänischen Adelsgeschlechts selbst in einer materiell prekären Situation. Auch das Sterben und den Tod nimmt er überall in Paris wahr, wobei ihn besonders die Anonymität des Sterbens in der Großstadt abstößt. Die überwiegend negativen Eindrücke von der Metropole bewirken schließlich, dass sich Malte an seine Kindheit zurückerinnert, die durch eine ländliche Umgebung, die kontrastiv zur Großstadt dargestellt wird, geprägt ist.

In der 14. Aufzeichnung, die als eine Art nachgeholte Exposition gelten kann, wird deutlich, dass Malte Verse schreibt und eine neue Art der Dichtung bzw. Literatur anstrebt, die nicht mehr erzählen, sondern nur noch „sagen“ will. Seine Ausführungen über diese Art der Dichtung lassen erkennen, dass sie sich vor allem auf Erinnerungen und Erfahrungen stützt. Maltes Erinnerungen beziehen sich auf seine Kindheit und seine Familie, die neben der Großstadt-Thematik zentrale Themenkomplexe ausmachen. Prägende Kindheitserfahrungen für Malte sind das Sterben Familienangehöriger wie seiner Großväter Brigge und Graf Brahe und auch der Tod seiner Mutter, der im Unterschied zum anonymen Sterben in der Großstadt als individuell und der Persönlichkeit entsprechend dargestellt wird. Auch an seine Beziehungen zu verschiedenen Familienmitgliedern, insbesondere an das innige Verhältnis zu seiner früh verstorbenen Mutter und die unerwiderte Liebe zu Abelone, der jüngeren Schwester der Mutter, erinnert sich Malte. Bereits während seiner Kindheit ist Malte aber auch mit Momenten der Selbstentfremdung konfrontiert, zum Beispiel als er die eigene Hand als nicht mehr zu ihm gehörig wahrnimmt (vgl. 30. Aufzeichnung). Schon als Kind begleiten Malte aber auch Anstzustände, er fürchtet den Tod und auch Gespenster. Dies geht auch auf die Affinität seiner gesamten Familie zu spiritualistischen Praktiken in denen das Erscheinen toter Personen wie der verstorbenen Christine Brahe als ebenso selbstverständlich hingenommen wird wie das Vorhandensein eines abgebrannten Hauses zurück. In seinen Aufzeichnungen betont Malte die Einbildungskraft seiner Familienangehörigen, die auch für ihn als Dichter essentiell ist.

Einen weiteren Themenkomplex stellen Reminiszenzen an große Persönlichkeiten wie Dichter (wie z.B. Ibsen und Baudelaire) und Dichterinnen (wie z.B. Sappho und Bettine von Arnim) und Heilige (wie Jesus) oder auch bildende Künstler (wie Cézanne und Beethoven) dar, die Malte als Vorbilder für seine Sichtweise der Welt und dadurch auch für seine Dichtung dienen. Den „großen Liebenden“, v.a. Frauen wie Sappho, Bettine von Arnim, Héloïse oder Gaspara Stampa scheint gelungen zu sein, was Malte bislang versagt ist: der Welt als Dichter liebend zu begegnen und keine Unterschiede zwischen den Menschen zu machen, auch nicht gegenüber den ,Fortgeworfenen‘. Erstrebenswert erscheint ihm eine Art selbstgenügsame und passive, „intransitive“ Liebe, die an kein Objekt mehr gebunden ist. Auf diese Vorstellung der Liebe zielt auch Maltes Umdeutung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn ab, als der er sich begreift. Mit der Kontrafaktur des Gleichnisses, die auch die von Malte empfundene Gottesferne zum Thema hat, enden die fragmentarischen Aufzeichnungen.

Textausgaben:

Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, Ausgust Stahl (Hrsg.): Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Text und Kommentar. Frankfurt a. M. 2000.

Schmidt-Bergmann: (Hrsg.): Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt a. M. 2000.

Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt a. M. 1982.

Text frei zugänglich z.B. bei Bibliothek Gutenberg: Projekt Gutenberg

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