Zur Hauptnavigation springen [Alt]+[0] Zum Seiteninhalt springen [Alt]+[1]

Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven

Für Walther Huder besteht das zentrale Thema von Kaisers Dramatik im Ausloten der „Möglichkeit der ,Erneuerung des Menschen‘“ (Huder 1964). In Von morgens bis mitternachts geschieht dies auf der Basis eines Experiments, das Möglichkeiten der Lebensgestaltung durch Geld auslotet. Das Experiment scheitert jedoch, da das ,wirkliche Leben‘ nicht zu kaufen ist. Man könnte sagen, dass das Drama das gesamte Zeitalter des Kapitalismus an einem einzigen Tag durchspiele (Huder 1964) bzw. eine „Deutung der modernen, käuflichen Warenwelt als ganzer“ (Vietta 1975) vor Augen führe. Dabei kann die Bank, in der der Kassierer arbeitet, als zentrale Institution einer modernen Gesellschaft gesehen werden. In ihr sind Werte beliebig austauschbar und auch das Individuum ist entpersonalisiert. So wird auch der Kassierer nur über seine Funktion definiert und bleibt als Individuum abstrakt und namenlos.

Kaisers szenische Erarbeitung des Aus- und Aufbruchs eines einfachen Bankangestellten lässt sich mit dem aus Nietzsches Lebensphilosophie hervorgehenden Vitalismus in Verbindung bringen, eine Strömung, die vor allem die Kraft der Veränderung des Individuums idealisierte und von vielen Expressionisten rezipiert wurde.

Nach der Begegnung mit der vornehmen Dame begibt sich der Kassierer auf eine Jagd nach der „Ware, die man mit dem vollen Einsatz kauft“. Bei der Darstellung der Stationen, die er dabei durchläuft, bleibt zwar der zeitliche Ablauf (gemäß der aristotelischen Poetik) kontinuierlich, aber die Orte variieren. Insgesamt sind die verschiedenen Schauplätze des Stationendramas nur lose miteinander verknüpft.

Weder bei der eigenen Familie noch beim Sechstagerennen, weder im Ballhaus noch in einer Lokalität der Heilsarmee findet der Kassierer die erhoffte Befreiung und Erneuerung seiner Selbstbegründung. Wie Oehm (1993) ausführt, wird die Wanderschaft des Kassierers lediglich durch die Negation einer jeweils erreichten Position vorangetrieben: Die Familienidylle wird als „[v]ertraulicher Zauber“ der Kleinbürgerlichkeit entlarvt. Von der nächsten Station, dem Sechstagerennen im Sportpalast, erhofft sich der Kassierer die Entgrenzung in der Ekstase und wird auch hier enttäuscht, als sich das Publikum von der Anwesenheit der ominösen „Hoheit“ in der Loge disziplinieren lässt. Im Ballhaus schaut er hinter die Fassade der ,Masken“, er stört sich an der Vulgarität der betrunkenen Prostituierten; von der einzigen maskierten Frau, die ihn interessiert, einer Pierrette, zieht er sich zurück, als er entdeckt, dass sie ein Holzbein hat. Weil er versteht, dass er sich Glück mit Geld nicht kaufen kann, sucht er einen Versammlungsort der Heilsarmee auf, um dort durch Buße Seelenfrieden zu erlangen. Als er sein Geld verschenkt und in die Menge wirft, muss er feststellen, wie schnell sich Geldsucht und Habgier unter den frommem Mitgliedern der Heilsarmee breitmachen. In einer letzten Episode, einem verzweifelten Akt, stürzt sich der Kassierer noch einmal auf die Liebe als Rettung aus der Sinnlosigkeit des Lebens. In einer Anspielung auf die Paradies-Szene in Genesis beschwört er: „Mädchen und Mann. Uralte Gärten aufgeschlossen Mädchen und Mann. Uralte Gärten aufgeschlossen. Entwölkter Himmel. Stimme aus Baumwipfelstille. Wohlgefallen.“. Doch das Mädchen, von dem er sich Liebe und Rettung erhofft, enttäuscht ihn. Es handelt sich um eine Zeitungsverkäuferin, die während des Stücks auftritt, um den „Kriegsruf“, die Zeitung der Heilsarmee, zu verkaufen und sich in den Dienst der guten Sache stellt. Auch gegenüber dem Kassierer zeigt sie sich immer freundlich und anschmiegsam. Doch auch von ihr wird er betrogen. Sie verrät ihn an die Polizei, um das ausgesetzte Kopfgeld zu kassieren. Auch sie unterliegt der Verlockung des Geldes. Nachdem auch dieser letzte Versuch gescheitert ist, sieht der Kassierer keinen anderen Ausweg mehr als die Selbsttötung. Bereits zu Beginn seines Auf- bzw. Ausbruchs deutet die Begegnung mit dem Gerippe, das er in der schneebedeckten Baumkrone zu erkennen glaubt, das tragische Ende an. Am Ende wird der Kassierer erneut mit dem Gerippe konfrontiert. Er erschießt sich in einer Ecce-Homo-Pose, die auch als Parodie Nietzsches gesehen werden kann.

Die Möglichkeit einer Erneuerung des Menschen mit der Hilfe von Geld ist gescheitert. Alles scheint käuflich, nur nicht, das, wonach der Kassierer sucht: Glück, Liebe, ein erfülltes Leben. Kaiser zeigt in seinem Drama somit nicht die Möglichkeit einer Erneuerung des Menschen, wie sie die messianische Dimensionierung des Expressionismus anstrebt, sondern führt eine Ich-Dissoziation vor Augen. In seiner vergeblichen Suche nach einem Sinn in der Welt erscheint der Kasserer als „[e]in Miniatur-Faust, der sich zu Tode rennt.“ (Diebold, zit. n. Huder 1964)

Textausgabe:

Georg Kaiser: Von morgens bis mitternachts. Stück in zwei Teilen. Fassung letzter Hand. Hg. v. Walther Huder, Anmerkungen von Ernst Schürer. Stuttgart 1964 (1994)

Kaiser: „Morgens bis mitternachts“: Herunterladen [pdf][168 KB]