Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven
Die am 24.10.1764 als Brendel Mendelssohn geborene älteste Tochter des Philosophen Moses Mendelssohn kommt früh mit Werken und Leitbegriffen der Aufklärung in Berührung. Die auch in ihrer Erziehung prägenden Prinzipien der Bildung, Humanität und grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen sind ebenso in ihren einzigen Roman eingeflossen wie die romantischen Ideen der Sehnsucht nach Erfüllung in der Liebe und der freundschaftlichen Seelenverwandtschaft, der Suche nach Herkunft, Heimat und Bestimmung. Mit letzteren ist Brendel, die sich nach der Scheidung von Simon Veit Dorothea nennt, an der Seite ihres zweiten Ehemanns Friedrich Schlegel ab 1799 in Jena (im Kreise der Frühromantiker Tieck, Schelling und Novalis) in Berührung gekommen. Doch haben nicht nur die Prägungen durch Elternhaus (Aufklärung) und Freundeskreis (Romantik) im Florentin Niederschlag gefunden, sondern auch die Hauptfigur selbst ist von einer realen Person inspiriert, Dorotheas erstem Liebhaber, dem Abenteurer, Wissenschaftler und Pferdefreund Edouard d’Alton (später Direktor des Tiefurter Gestüts). Wie Florentin war er weitgehend unbekannter Herkunft, führte ein abenteuerliches Wanderleben, war Soldat und auf dem Weg nach Amerika. Schon in der Gesamtstruktur des Romans sind Merkmale der beiden komplementären Einflussbereiche angelegt: Folgt das Leben Florentins dem Muster des Bildungsromans (Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre galt dem Jenaer Kreis als Prototyp des modernen Romans), bei dem es darum geht, die Herkunft des Helden aufzuklären, ihn zu seiner Familie zurück zu führen, alle Rätsel aufzuklären, um eine Ordnung herzustellen, die von Anfang an geahnt wird, rücken charakterliche Merkmale Florentins (Außenseiter, den Menschen entfremdet, empfindsam, Liebhaber, Künstler, fahrender Held), geheimnisvoll-geisterhafte Motive und Episoden (mysteriöse innere Nähe zu Clementina/ Geschichte der Kindserscheinung) den Roman in den Bereich der Romantik. Diesem lassen sich ferner äußere Formmerkmale zuordnen, die der romantischen Romanpoetik entsprechen: Aufbrechen des linearen Erzählens durch Briefe, Gespräche, Gedichte, eingeschobene Geschichten und stimmungsvolle Naturschilderungen. Weitere romantische Darstellungsmerkmale wie Sprachwitz, Sprachspiel, Ironie fehlen allerdings. Zusammen mit der sparsamen Verwendung des Märchenhaft-Phantastischen und der Klarheit von Sprache und Ausdruck verhindert dies eine eindeutige Zuordnung zur romantischen Schule. „Dorothea Schlegels Erzählen lebt […] weder von der Erfindung einer starken Handlung noch von der Charakterzeichnung; die Eigentümlichkeit [des Romans] liegt vielmehr in der Verbindung von ästhetischen, sozialen und moralischen Betrachtungen und Diskussionen mit einer locker geknüpften Geschehenskette“ (Nehring 2012). Eine weitere Besonderheit des Romans ist die stringente Verknüpfung von komplexen Themen mit Figuren, anhand derer sie anschaulich werden. Graf Schwarzenberg und seine Frau Eleonore verkörpern gleichermaßen eine Partnerschaft in gegenseitiger Wertschätzung und völliger Gleichberechtigung sowie eine aristokratisch-humanistische Lebensform. Als Mann und Frau bilden sie eine harmonische Einheit, sie wirken selbständig in eigenen Tätigkeitsbereichen, wobei sie einander als Gehilfen zur Seite stehen; die Bauernfamilien der zum Herrschaftsbereich gehörenden Dörfer sind wohlhabend, handeln mit großer Eigenverantwortung und sind der gräflichen Familie zugetan, zwischen Eltern und Kindern herrscht ein herzliches, von aufrichtiger Zuneigung geprägtes Verhältnis. Die aufgeklärten Vorstellungen des Paares zu Ökonomie, Erziehung und sozialem Miteinander jenseits der Standesschranken zeigen, dass zu einer Humanisierung der sozialen Verhältnisse lediglich Offenheit, Verantwortung und Verständnis für die Bedürfnisse der Untergebenen nötig sind, nicht aber eine Revolution nach französischem Vorbild. Um die Überlegenheit dieses sozialen Modells zu untermauern, wird es mit einem Gegenmodell kontrastiert und in Gestalt eines einfältigen Oberwachtmeisters, der dieses vertritt, der Lächerlichkeit preisgegeben. Dieser will seine Bauern („Bestien“) autoritär erziehen und ausbilden, damit diese ihm noch bessere Erträge erwirtschaften. Die auf dem Schwarzenbergschen Gut herrschende frohe Geselligkeit, der fein ausgebildete Kunstsinn, der respektvolle Umgang zwischen Jung und Alt sowie zwischen den Geschlechtern kontrastiert zudem mit der düsteren Welt der Kindheit Florentins, in der freudlose Frömmigkeit, Askese und geistige Enge herrschten – ein dunkles Mittelalter aus der Sicht der nun von ihm erlebten aufgeklärten Gesellschaft. Eine weitere Akzentuierung erfährt der Humanitätsgedanke der Aufklärung in der uneigennützigen Wohltätigkeit der zurückgezogen lebenden Philanthropin Clementina, die auf ihrem Anwesen Wohnmöglichkeiten für Arme und Betreuung für benachteilige Kinder bereitstellt. Statt spielerischer Heiterkeit herrscht hier eine Atmosphäre der Ernsthaftigkeit, Toleranz und Nächstenliebe. Dieser eher kontemplativen Stimmung entspricht die hohe Würde der Gräfin, die in Gesprächen, Briefen und auf Bildern allgegenwärtig, doch wenig sichtbar ist. Ohne sie kann die Hochzeit lange nicht stattfinden, nach der Vermählung von Eduard mit Juliane gilt ihr der erste Besuch des Paares. Auch das Thema der Religion ist kontrastiv angelegt: Auf der einen Seite stehen der machtfixierte Prior, ein schwacher Pater und eine bigotte Pflegemutter in Florentins Kindheit voller Zwang. Auf der anderen befindet sich die Gräfin Clementina, die selbst wie eine Heilige verehrt wird. In ihrem Haus befindet sich ein Gemälde der heiligen Cäcilia, die über Tod und Trauer triumphiert und die ihre Züge trägt; ihre Nähe zu Kunst und Musik, auch ihre Frömmigkeit und physische Schwäche entrücken sie der Alltagswelt. Um ihre eigene enttäuschte Liebe zu kompensieren, widmet sie sich der altruistischen Nächstenliebe; dadurch figuriert sie als Gegenbild zu ihrer Schwägerin Eleonora, die andere durch ihr eigenes Glücklichsein glücklich macht. Der Motivkomplex Liebe und Freundschaft artikuliert sich vorwiegend in der Beziehung zwischen Florentin, Juliane und Eduard. Auf den ersten Blick erscheinen die beiden Letztgenannten ein glückliches Paar zu sein, das sich auf seine Hochzeit freut. Auf den zweiten Blick sind jedoch Spannungen erkennbar, die die Beziehung gefährden: Juliane ist noch sehr jung (16), ohne sinnliche Bedürfnisse oder Vorstellung von der Ehe; Eduard erwartet demgegenüber eine erfüllte Sexualität. Hinzu kommt Florentin, der es gewohnt ist, den Regungen seiner Sinnlichkeit nachzugeben, doch im Fall Julianes entscheidet, sich nicht an den „schönen Leichtsinn“ hingebend, „der ihm sonst beim Anblick einer Schönen gewöhnlich war“ (36). Beide Liebenden spüren dem erfahrenen Florentin gegenüber ein Ungenügen und sind ihm aus unterschiedlichen Gründen zugetan: Eduard beneidet Florentins Freiheit und Lebensführung, Juliane ist fasziniert von seinem Leben und betrachtet ihn als Erzieher und Freund. Eduards Schwanken zwischen dem Begehren Julianes und der Freundschaft mit Florentin, Julianes prinzessinnenhafte Unreife (vgl. ihr Verhalten während des Unwetters) und Florentins Erkenntnis, dass seine Gegenwart trotz der Freundschaftsbekundungen für ihn selbst und das Paar gefährlich ist, macht seinen Abschied unausweichlich. Der Titelheld selbst, der durchgehend im Fokus der Aufmerksamkeit steht, entpuppt sich als eine komplexe, facettenreiche Figur: unglückliches Kind, nach Unabhängigkeit strebender Jüngling, der Idee der Freiheit folgender Mann, Liebhaber, Freund, Ehemann, Künstler, ebenso tiefsinnig wie kampferprobt – ein typisch romantischer Held: sensibel, sehnend, suchend, strebend. Doch auch als ideale Männergestalt ist er inneren Widersprüchen ausgesetzt (Egoismus vs. Selbstlosigkeit, Tiefsinn vs. Tatendrang, Außenseiter vs. Geselligkeit), die – wenn auch nur angedeutete – Entwicklungen ermöglichen: vom Misanthropen zum sozialen Wesen, vom egozentrischen Abenteurer zum rücksichtsvollen Freund, vom Melancholiker zum Tatmenschen. Feministische Deutungsansätze konzentrieren sich auf die im Roman zahlreich vertretenen Frauenfiguren. Diese lassen die Geschlechtergrenzen und Rollenfestlegungen ihrer Zeit hinter sich: die Gräfinnen Eleonora und Clementina sind beide auf ihre Weise unabhängig, agieren souverän und begegnen den Männern ihres Standes (Graf, Doktor) auf Augenhöhe, wenn nicht gar darüber. Unter ihrem Einfluss geschieht Gutes im großen Maßstab, denn sie setzen Ideen der Aufklärung und Gleichberechtigung durch („Es geziemt dem Manne allerdings … der Gehülfe einer Frau zu sein, die im Felde die Gefährtin ihres Mannes zu sein wagt.“, so der Graf, 22). Juliane schlüpft in Männerkleidung, um mit Eduard und Florentin einen Ausflug zu machen, und bildet mit beiden vorübergehend einen Treuebund unter Gleichgestellten. Die Figur des Florentin trägt auch Züge ihrer Erfinderin: Dorothea Schlegel. Der Name kann rein lautlich männlich wie weiblich aufgefasst werden, es regiert Empfindungstiefe in Gesprächen mit den Freunden und im Wortwechsel mit dem Grafen bleibt die geschlechtliche Identität Florentins merkwürdig vage: „»Von Florentin?«, fragte der Vater …- »wenn es durchaus mit meinem Namen allein nicht genug ist«, sagte er, »so setzen sie Baron hinzu, das bezeichnet wenigstens ursprünglich, was ich zu sein wünsche, nämlich ein Mann.«“ (40, 41). Trotz dieser positiven Darstellungen der Frauenfiguren und trotz der weiblichen Einschreibungen zeigen Äußerungen Dorothea Schlegels in Briefen, dass sie Geschlechterstereotypen im realen Leben keineswegs überwunden hat.
Schlegel: „Florentin“: Herunterladen [pdf][226 KB]
Weiter zu Didaktische Hinweise & Vernetzung