Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven
Das kunstseidene Mädchen (1932) ist Irmgard Keuns zweiter Roman nach ihrem erfolgreichen Debütroman Gilgi – eine von uns (1931). Der ursprünglich geplante Titel Mädchen ohne Bleibe stellt stärker die Obdachlosigkeit der Protagonistin und damit das gesellschaftskritische Thema der von sozialem Elend geprägten Spätphase der Weimarer Republik in den Vordergrund. Der Titel, unter dem der Roman dann schließlich veröffentlicht wird, charakterisiert dagegen die aufstiegsorientierte Protagonistin, für die der äußere Glanz wichtiger ist als die Substanz. Bei Kunstseide handelt es sich um einen zwar glänzenden, aber qualitativ minderwertigen Stoff.
Die an den Jahreszeiten Sommer, Herbst und Winter und Schauplätzen (kleine Stadt, große Stadt, Wartesaal) orientierte Gliederung in drei Teile kennzeichnet den Entwicklungsprozess der Protagonistin, der als eine Verfallsgeschichte gelesen werden kann: Die Jahreszeiten stehen symbolisch für Doris’ innere Verfasstheit. Gleichzeitig markieren sie die Stationen ihres sozialen Abstiegs. Eine Gattungsbestimmung des Romans ist schwer. Da die Titelheldin auch eine Hochstaplerin ist, die sich bisweilen durch Lügen in ein vermeintlich besseres Licht rückt (wenn sie z.B. vorgibt, eine Affäre mit dem Theaterdirektor zu haben), eine (fiktive) Autobiographie verfasst und wegen weiterer Merkmale wie der niederen Herkunft und der episodischen Erzählstruktur weist der Roman Elemente des Schelmenromans auf. Im Hinblick auf die scheiternde Sozialisationsgeschichte sowie den Aufbruch in eine neue Welt, die sich eine bürgerliche Existenz zum Ziel setzt, aber daran scheitert, reiht sich der Roman auch in die Tradition des Entwicklungsromans ein. Diese regressive Entwicklung macht Das kunstseidene Mädchen zu einem „Anti-Entwicklungsroman“.
Gleichzeitig lässt sich der Roman auch als Zeitroman lesen, denn er setzt sich mit der Situation von in prekären Verhältnissen lebenden Randexistenzen in der späten Weimarer Republik auseinander. Im Zentrum stehen die schwierigen Lebensumstände von jungen Frauen, die ihr Glück in der Stadt versuchen. Dabei wird ein sehr heterogenes Frauenbild gezeichnet. So repräsentiert Doris einerseits die damals viel beschworene ,Neue Frau’, die nach Selbstverwirklichung strebt und alten Rollenzuweisungen und bürgerlichen Konventionen zu entfliehen sucht, wenn sie beispielsweise aus eigener Initiative Männerbekanntschaften eingeht und selbstbestimmt handelt; andererseits hält selbst Doris weiterhin an traditionellen Rollenbilder fest, wenn sie das gesamte Feld der Politik den Männern zuweist und letztlich auch das Ziel verfolgt, einen sie beschützenden (und dominierenden) Mann zu finden und eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Der Roman führt drastisch vor Augen, dass Frauen wie Doris, die aus einem bildungsfernen Kleinbürgertum stammen, letztlich keine Möglichkeit zu einem sozialen Aufstieg haben. Darin ändert auch der Weg in die Großstadt nicht. Selbst wenn Doris zunächst alle Hoffnung auf das ihr zunächst glamourös und alle Möglichkeiten bereithaltend erscheinende Berlin setzt, so muss sie doch erkennen, dass sie nur ausgenutzt wird, aber vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen bleibt. Arbeitslosigkeit, Prostitution und eine zunehmende Radikalisierung in Form von Judenhass begegnen ihr allerorts. Besonders der Ausflug durch Berlin mit ihrem blinden Freund Brenner öffnet ihr die Augen für die Schattenseiten der Großstadt und verändert ihre Wahrnehmung endgültig.
Keun hinterfragt mit ihrem Roman auch die auf leichte Unterhaltung und Konsum ausgerichtete großstädtische Massenkultur: Ist es zunächst Doris’ innigster Wunsch, ein „Glanz“ zu werden, so wendet sie sich am Ende von ihrem Lebenstraum, den die Erfüllung in materiellem Besitz und dem Erlangen von gesellschaftlichen Ansehen sieht, ab. Sie muss erkennen, dass sich hinter der glänzenden Oberfläche ein Mangel an emotionaler Nähe und Wärme verbirgt. Ihr (gestohlener) Pelzmantel symbolisiert in diesem Zusammenhang den äußerlichen Glanz und die Oberflächlichkeit, nach denen Doris zunächst strebt, aber auch den Versuch, einen für sie angemessenen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Als sie begreift, dass ihr der Aufstieg versagt bleibt und der Pelzmantel keine menschliche Wärme ersetzen kann, ist sie dazu bereit, den „Feh“ der Besitzerin zurückzugeben.
Sprachlich orientiert sich der als (fiktive) Autobiographie angelegte Roman an filmischen Erzählmustern, was exemplarisch in der Beschreibung der Taxifahrt durch Berlin besonders deutlich wird: Heterogene visuelle Eindrücke werden aneinandergereiht, Montagetechniken spiegeln das Tempo des Großstadtlebens wider.
Der Roman wurde nach seinem Erscheinen kontrovers beurteilt: Die eher linksliberale Literaturkritik hob die Komik des Romans hervor und lobte die sozialkritische Thematik, die die selbstbewusste, erotisch freizügige „Neue Frau“ in den Mittelpunkt stellt und gleichzeitig gesellschaftliche Missstände anprangert. Aus den gleichen Gründen wurde der Roman von der eher konservativen, deutschnationalen Presse kritisiert: Die Darstellung der deutschen Frau wurde als negativ und moralisch anrüchig angesehen. Gleichzeitig gab es Plagiatsvorwürfe gegen die Autorin, da der Roman Parallelen zu Robert Neumanns Karriere(1931) und Anita Loos’ Gentlemen prefer Blondes (1925) aufweise. Auf der anderen Seite begegnete man derartigen Vorwürfen mit dem Verweis auf die Legitimität von Intertextualität. Erst in den 1979er Jahren und in jüngerer Zeit wurde der Roman von der feministischen Literaturwissenschaft wiederentdeckt.
Keun: „Das kunstseidene Mädchen“: Herunterladen [pdf][190 KB]
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