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Fachwissenschaftliche Orientierung

Topologische Satzmodelle des Deutschen beschreiben Wortstellungsregularitäten, die für deutsche Sätze charakteristisch sind. Sie machen keine Aussagen über hierarchische Strukturen, sondern fokussieren die lineare Syntax deutscher Sätze. Dabei werden die Sätze des Deutschen auf eine linear geordnete Folge von topologischen Bereichen abgebildet, sodass syntaktische Muster und mögliche lineare Anordnungen des sprachlichen Materials kenntlich werden. Für das Deutsche lasse sich zwei grundlegende Modellierungs- typen unterscheiden: das uniforme Satzklammermodell und das Differenzmodell. Das uniforme Satzklam- mermodell geht davon aus, dass sich sämtliche Sätze des Deutschen auf ein einheitliches Grundmuster zurückführen lassen (Uniformitätshypothese), das durch die Satzklammer gegliedert wird. Im Gegensatz dazu geht das Differenzmodell davon aus, dass sich die Sätze des Deutschen auf verschiedene Satzmuster zurückführen lassen (Differenzhypothese) und die Satzklammer keinen konstitutiven Bestandteil der To- pologie des Deutschen darstellt.1

Die Grundform des uniformen Satzklammermodells hat folgende Form:

Vorfeld
(VF)
Linke Satzklammer
(LSK)
Mittelfeld
(MF)
Rechte Satzklammer
(RF)
Nachfeld
(NF)

Nach dem uniformen Satzklammermodell weist jeder Satz des Deutschen eine Satzklammer auf, die sich aus der linken Satzklammer (LSK) und der rechten Satzklammer (RSK) zusammensetzt. Die Satzklammer gliedert dabei den Satz in das Vorfeld (VF), das Mittelfeld (MF) sowie das Nachfeld (NF). Das VF umfasst den Bereich vor LSK, das MF ist der Bereich zwischen LSK und RSK, der Bereich nach RSK bildet schließlich das Nachfeld (NF).

Für die einzelnen Bereiche lassen sich Belegungsbedingungen angeben, die erfüllt sein müssen, damit ein wortstellungsmäßig wohlgeformter Satz entsteht (vgl. Wöllstein 2010: 32, 38, 40, 41, 51): Das VF ist durch genau eine Wortgruppe belegt oder leer. In LSK steht das finite Verb, eine Subjunktion, oder LSK ist leer. Das MF kann fakultativ durch beliebig viele Konstituenten belegt werden. RSK kann ein finites Verb, infi- nite Verben sowie einen trennbaren Verbzusatz enthalten oder leer auftreten. Im NF können fakultativ beliebig viele Konstituenten platziert werden. Das Basismodell des Differenzmodells weist demgegenüber drei Satzmuster auf:

V2-Satz VF FINIT MF VK NF
V1-Satz FINIT MF VK NF
VE-Satz COMP MF VK NF

[VF = Vorfeld, FINIT = Finitheitsposition, MF = Mittelfeld, VK = Verbalkomplex, NF = Nachfeld, COMP = Komplementiererbereich]

Im Unterschied zum uniformen Satzklammermodell werden für die Sätze des Deutschen drei Satzschemata differenziert: das V₂-Schema für Verbzweitsätze, das V₁-Schema für Verberstsätze sowie das VE-Schema für Verbendsätze.

Sätze, die nach dem V₂-Schema gebildet sind, weisen ein Vorfeld (VF), eine Position für das finite Verb (FINIT), ein Mittelfeld (MF) einen Bereich für den Verbalkomplex (VK) sowie ein Nachfeld (NF) auf. Im Unterschied zu V₂-Sätzen haben V₁-Sätze kein VF. VE-Sätze weisen weder ein VF noch eine Finitheitsposition FINIT auf, sondern beginnen mit dem COMP-Bereich für Satzeinleiter.

Im Einzelnen werden für die topologischen Bereiche des Differenzmodells folgende Restriktionen formuliert: Im obligatorisch belegten VF steht genau eine Wortgruppe. In der FINIT-Position, die ebenfalls obligatorisch besetzt ist, steht das finite Verb. COMP beinhaltet eine Subjunktion oder eine satzeinleitende Wortgruppe (z. B. Relativ- oder Interrogativpronomen). Die übrigen Bereiche stimmen mit den entsprechenden Bereichen des uniformen Satzklammermodells überein. Das MF kann fakultativ durch eine beliebige Anzahl an Wörtern oder Wortgruppen besetzt werden. In VK stehen analog zur RSK fakultativ beliebig viele Verbformen und trennbare Verbzusätze. Das NF ist ebenfalls fakultativ durch beliebig viele Wortgruppen belegbar.

Vergleicht man beide topologischen Modellierungsvarianten, ist zunächst die unterschiedliche konzepti- onelle Grundlage hervorzuheben. Dem uniformen Satzklammermodell liegt die Uniformitätshypothese zugrunde. Es geht davon aus, dass die Satzklammer ein konstitutiver Bestandteil zur Erfassung der topolo- gischen Struktur sämtlicher Sätze des Deutschen ist (+ Satzklammerhypothese). Demgegenüber beruht das Differenzmodell auf der Differenzhypothese, welche besagt, dass die Sätze des Deutschen auf verschie- dene Satzschemata (V2-, V1- und VE-Schema) zurückzuführen sind. Zudem geht das Differenzmodell da- von aus, dass die Satzklammer zur topologischen Beschreibung deutscher Sätze nicht konstitutiv ist (- Satzklammer). Dennoch lassen sich Bezüge zwischen den topologischen Bereichen LSK und RSK des uniformen Satzklammermodells und den Bereichen FINIT, COMP und VK des Differenzmodells feststel- len. Auf der Grundlage der Belegungsrestriktionen wird deutlich, dass LSK den Bereichen FINIT und COMP entspricht und RSK mit VK identifiziert werden kann. Ebenso stimmen das VF, das MF sowie das NF beider Modellvarianten überein.2

uniformes Satzklammermodell

VF

LSK

MF

RSK

NF

Differenz-
modell

V₂-Schema

VF

FINIT

MF

VK

NF

V₁-Schema

 

FINIT

MF

VK

NF

VE-Schema

 

COMP

MF

VK

NF

Aus dieser unterschiedlichen Fundierung der Modellvarianten ergeben sich Konsequenzen hinsichtlich ihrer Restriktivität und Deskriptivität. Zunächst ist festzuhalten, dass LSK bei uniformen Satzklammermodellen eine Positionskategorie für Satztyp und / oder Satzmodus spezifizierende Köpfe3 darstellt (Wöllstein 2014: 148). Die nachstehenden Beispiele zeigen, dass die LSK-Belegung zur Spezifizierung des Satztyps bzw. des Satzmodus oder des Nebensatztyps beiträgt:4

(1)

VF FINIT MF VK NF Satztyp Satzmodus
Nebensatztyp
a. - Hast du dir denn nicht die Hände am Feuer aufgewärmt? - V1-Satz Entscheidungsinterrogativ
b. Die Hände haben wir uns am Feuer aufgewärmt. - V2-Satz Deklarativsatz
c. - dass du dir die Hände am Feuer aufgewärmt hast - VE-Satz subjuntional eingeleiteter Nebensatz

Ist LSK durch ein Finitum belegt und das VF leer, liegt ein V1-Entscheidungsinterrogativ vor. Ist das VF hingegen belegt und LSK durch ein Finitum besetzt, wird der Satz als V2-Deklarativsatz spezifiziert. Steht eine Subjunktion in LSK, entsteht ein VE-Satz, der einen subjunktional eingeleiteten VE-Satz darstellt. Die Belegung der LSK legt also zusammen mit der VF-Belegung die Wahl der möglichen Satzmodi fest (Wöll- stein 2010: 32).5

Beim Differenzmodell steht dagegen nicht die Beschränkung von LSK auf funktional markierte Köpfe im Vordergrund, sondern der kategoriale Unterschied zwischen finiten Verben und Satzeinleitern. Dies hat zur Folge, dass keine LSK angesetzt wird, sondern finite Verben und Satzeinleiter in unterschiedlichen to- pologischen Bereichen FINIT und COMP analysiert werden.

(2)

a. V2-Satz VF FINIT MF VK NF
Die Hände haben wir uns am Feuer aufgewärmt. -

(3)

b. VE-Satz COMP MF VK NF
dass du dir die Hände am Feuer aufgewärmt hast. -

In FINIT des V2-Satzes ist das Finitum platziert, wohingegen die Subjunktion im VE-Satz in COMP steht. Eine Problematik, die sich mit der Annahme einer Satzklammer ergibt, besteht darin, dass für LSK je nach Satztyp unterschiedliche Restriktionen gelten. Bei V1- und V2-Sätzen sind in LSK nur finite Verben zulässig, wohingegen in VE-Sätzen nur Subjunktionen in LSK platziert werden können. Um diese unterschiedlichen Wortstellungsregularitäten bei V1- und V2-Sätzen einerseits und VE-Sätzen andererseits zu erfassen, liegt es nahe, jeweils unterschiedliche topologische Bereiche anzusetzen, wie es im Differenzmodell mit FINIT und COMP realisiert ist. Mit dieser Unterscheidung wird im Differenzmodell jeder topologische Bereich unabhängig von jeweiligen Satztyp, in dem der jeweilige Bereich vorkommt, einheitlich verwendet.6

Ein weiterer Unterschied zwischen den Modellvarianten resultiert aus der Uniformitätshypothese. Dadurch, dass sämtliche Sätze des Deutschen auf ein Satzmuster zurückgeführt werden, ist die Besetzung von VF und LSK fakultativ und damit weniger restriktiv als die obligatorisch zu besetzenden Bereiche VF, FINIT und COMP des Differenzmodells.

(4)

VF LSK MF RSK NF Satztyp
a. Die Hände haben wir uns am Feuer aufgewärmt. - V2-Satz
b. - Hast du dir denn nicht die Hände am Feuer aufgewärmt? - V1-Satz
c. der - sich die Hände am Feuer aufwärmt - VE-Satz

Im uniformen Satzklammermodell ist LSK bei V2- und V1-Sätzen belegt, bei Relativsätzen jedoch leer, da das phrasale Relativpronomen im VF zu platzieren ist (4). Damit kann die Belegung von LSK insgesamt nur als fakultativ bestimmt werden. Um genauer anzugeben, wann LSK belegt und wann LSK leer ist, muss wie beim Differenzmodell auf den jeweiligen Satztyp Bezug genommen werden.

(5)

a. V2-Satz VF FINIT MF VK NF
Die Hände haben wir uns am Feuer aufgewärmt. -
b. V1-Satz FINIT MF VK NF
hast du dir denn nicht die Hände am Feuer aufgewärmt? -
c. VE-Satz COMP MF VK NF
der sich die Hände am Feuer aufwärmt -

Da beim Differenzmodell für jeden Satztyp ein spezifisches Satzmuster vorliegt (5), sind VF und FINIT im jeweiligen Satzschema obligatorisch zu besetzen. Ebenso wird das phrasale Relativpronomen in COMP analysiert, womit auch dieser Bereich obligatorisch entweder durch eine Subjunktion oder durch einen phrasalen Satzeinleiter zu belegen ist.7

Die topologische Analysen (4) und (5) und zeigen außerdem, dass im uniformen Satzklammermodell obligatorisch leere Bereiche angesetzt werden müssen, was beim Differenzmodell nicht der Fall ist. V1-Sätze weisen im uniformen Satzklammermodell ebenso wie subjunktional eingeleitete VE-Sätze ein leeres VF auf, VE-Sätze mit phrasalem Satzeinleiter eine leere LSK. Das Differenzmodell vermeidet obligatorisch leere Bereiche, indem bei V1-Sätzen und VE-Sätzen kein VF angesetzt wird und bei VE-Sätzen nicht zwischen phrasalen und nichtphrasalen Satzeinleitern unterschieden wird.

Allerdings kann durch die Satzklammerkonzeption des uniformen Satzklammermodells eine strikte Trennung von Feldern (VF, MF, NF), in denen Wortgruppen stehen können, und Positionen (LSK, RSK), die nichtphrasale Einheiten enthalten, erreicht werden. Dies ist beim Differenzmodell nicht möglich, da mit COMP ein Bereich vorliegt, in dem sowohl nichtphrasale Satzeinleiter wie Subjunktionen und phrasale Satzeinleiter wie Relativpronomen analysiert werden.8

Hinsichtlich des deskriptiven Potentials der Modellvarianten ist zunächst festzuhalten, dass mit dem uniformen Satzklammermodell die komplementäre Verteilung von finiten Verben und Subjunktionen erfasst werden kann. LSK ist entweder durch ein finites Verb oder eine Subjunktion besetzbar. Wird LSK durch ein finites Verb belegt, steht kein weiterer topologischer Bereich zur Verfügung, in dem eine Subjunktion auftreten könnte. Wird LSK andererseits durch eine Subjunktion belegt, kann das Finitum nach RSK ausweichen. Im Differenzmodell kann die komplementäre Verteilung von finiten Verben und Subjunktionen nicht auf die alternierende Belegung eines topologischen Bereichs zurückgeführt werden. Diese wird hier durch die Unterscheidung von selbständigen F-Sätzen (Sätze mit FINIT-Position) und unselbständigen VE- Sätzen einsichtig. Da selbständige F-Sätze eine Finitumsposition, aber kein COMP aufweisen und VE-Sätze umgekehrt kein FINIT, aber COMP beinhalten, wird das komplementäre Auftreten finiter Verben und Subjunktionen auch im Differenzmodell modelliert. Hinzu kommt, dass die topologische Unterscheidung zwischen selbständigen F-Sätzen und unselbständigen VE-Sätzen beim uniformen Satzklammermodell durch die einheitliche Position LSK nicht erfasst wird.

Allerdings differenziert das uniforme Satzklammermodell zwischen phrasalen Satzeinleitern wie z. B. Relativpronomen und nichtphrasalen Satzeinleitern wie z. B. Subjunktionen, die im Differenzmodell sämtlich in COMP analysiert werden. Für eine gemeinsame Analyse in COMP spricht jedoch ihr identisches Stellungsverhalten. Sowohl Subjunktionen als auch Relativpronomen können nicht im MF platziert werden, sondern müssen am Beginn des Satzes stehen. Damit hängt zusammen, dass das uniforme Satzklammermodell in Abhängigkeit vom jeweiligen Satzeinleiter zwei unterschiedliche VE-Satzanalysen ansetzt,wohingegen das Differenzmodell eine einheitliche VE-Satzanalyse vornimmt.

(6)

VF LSK MF RSK NF Satztyp
a. - dass du dir die Hände am Feuer aufgewärmst - VE-Satz
b. der - sich die Hände am Feuer aufgewärmt - VE-Satz

Im subjunktional eingeleiteten VE-Satz ist die Subjunktion in LSK platziert, das VF ist leer. Im Gegensatz dazu steht das Relativpronomen im VF, wobei LSK leer angesetzt wird.

(7)

a. VE-Satz COMP MF VK NF
dass du dir die Hände am Feuer aufgewärmst -
der sich die Hände am Feuer aufwärmt -

Die topologische Analyse der VE-Sätze nach dem Differenzmodell zeigt, dass sowohl die Subjunktion als auch das Relativpronomen in COMP stehen.

Ferner machen die topologischen Analysen deutlich, dass im Differenzmodell die drei Satztypen V1-, V2- und VE-Satz explizit durch die drei Satzschemata differenziert werden, während das uniforme Satzklammermodell ein einheitliches Schema für sämtliche Satztypen ansetzt, sodass die unterschiedlichen Wortstellungsregularitäten der drei Satztypen nicht direkt anhand des toplogischen Schemas ablesbar sind.

Dadurch, dass das uniforme Satzklammermodell mit dem VF bei VE-Sätzen ein zusätzliches Feld bereitstellt, lassen sich z.B. dialektale Nicht-Standard-Muster erfassen, was mit dem Differenzmodell nicht ohne Weiteres möglich ist.9

(8)

VF LSK MF RSK NF Satztyp
mit wem dass sie zu tun haben10 - VE-Satz

Das Beispiel verdeutlicht, dass VF und LSK bei VE-Sätzen auch gleichzeitig belegt werden können. Die nachstehende Tabelle gibt den Modellvergleich im Überblick wieder:

uniformes Satzklammermodell Differenzmodell
konzeptionelle Grundlage
  • Uniformitätshypothese

  • Satzklammerhypothese (LSK, RSK)

  • Differenzhypothese

  • keine Satzklammer (LSK = FINIT / COMP, RSK = VK)

Restriktivität Linke Satzklammer (LSK): Positionskategorie für Satztyp und/oder Satzmodus spezifizierende Köpfe FINIT vs. COMP: Berücksichtigung der kategorialen Unterscheidung zwischen finiten Verben und Satzeinleitern
Für LSK gelten je nach Satztyp unterschiedliche Restriktionen, was für zwei unterschiedliche topologische Bereiche spricht (Satzklammerproblematik) Einheitliche Konzeption der topologischen Bereiche unabhängig vom jeweiligen topologischen Satztyp

fakultative Besetzung von VF und LSK

(Uniformitätsproblematik)

obligatorisch zu besetzendes VF, FINIT bzw. COMP

obligatorisch leere Felder (VF bei V₁- und VE-Sätzen, LSK bei phrasal eingeleiteten VE-Sätzen, wie z. B. Relativsätzen)

(Uniformitätsproblematik)

  • Kein VF bei V₁- und VE-Sätzen

  • keine obligatorisch leere Position bei VE-Sätzen

strikte Trennung von Feldern und Klammerpositionen: Felder beinhalten Phrasen, Klammerpositionen nicht COMP als Bereich, der sowohl phrasale Elemente (z. B. Relativpronomen) als auch nichtphrasale Einheiten umfasst (Subjunktionen)
Deskriptivität Komplementäre Verteilung von finitem Verb und Subjunktionen durch alternierende Belegungsmöglichkeit der LSK Differenzierung selbständiger F-Sätze (Sätze mit FINIT-Position) und unselbständiger VE-Sätze
Erfasst Distanzstellung von Verben bei mehrgliedrigem Verbalkomplex Erfasst Distanzstellung von Verben bei mehrgliedrigem Verbalkomplex
Differenzierung zwischen Subjunktionen und phrasalen Satzeinleitern wie z. B. Relativpronomen Einheitliche Analyse von Satzeinleitern in COMP
Unterschiedliche Analyse von pronominal eingeleiteten VE-Sätzen und subjunktional eingeleiteten VE-Sätzen Einheitliche Analyse von VE-Sätzen
Einheitliche Analyse sämtlicher Satztypen Toplogische Unterscheidung der drei Satztypen V₁-, V₂- und VE-Satz
Analyse von Nicht-Standard-Mustern nicht ohne Weiteres möglich
Weder das uniforme Satzklammermodell noch das Differenzmodell reichen in ihrer bisherigen Form aus, sämtliche Sätze des Deutschen analysieren zu können. Um Linksversetzungen, Diskursmarker oder Koor- dinationsstrukturen erfassen zu können, wird das Differenzmodell daher um das Anschlussfeld AN und das Topikfeld TF sowie um das Koordinationsschema KS erweitert (Pafel 2011: 100 f.).11

Erweitertes Differenzmodell

V₂-Satz AN TF VF FINIT MF VK NF
V₁-Satz AN TF FINIT MF VK NF
VE-Satz AN TF COMP MF VK NF

[AN = Anschlussposition, TF = Topikfeld, VF = Vorfeld, FINIT = Finitheitsposition, MF = Mittelfeld, VK = Verbalkomplex, NF = Nachfeld, COMP = Komplementiererbereich]

Koordinationsschema KS KOORD1 K1 KOORD2 K2 KOORDn Kn

[KOORD = Konjunktionsposition, K = Konjunktfeld]

In der Anschlussposition werden Diskursmarker wie denn, aber, und, nein oder also analysiert. Sie haben die Funktion, den inhaltlichen Bezug zum vorangegangenen Diskurs anzuzeigen, ohne dass eine syntaktische Koordination vorliegt. Diskursmarker sind daher von gleichlautenden Konjunktionen zu unterscheiden.

Das Topikfeld enthält einen Ausdruck wie z. B. eine Linksversetzung12, der das Thema des Satzes vorgibt, d. h. er legt den Sachverhalt fest, um den es im Satz geht.

Mit den vorgenommenen Erweiterungen lassen sich jetzt Sätze mit Anschlusspartikel und Linksversetzung erfassen:13

(9)

V2-Schema AN TF VF FINIT MF VK NF
Und an so einem Tag, da geht einfach alles schief -

Die Diskurspartikel und knüpft den Satz an den vorhergehenden Diskurs an und signalisiert eine thematische Weiterführung. Durch die Linksversetzung in TF wird der im Satz behandelte Sachverhalt ausgedrückt, welcher durch das anaphorische Adverb im VF wieder aufgenommen wird.

Koordinationsstrukturen14 können mit dem Koordinationsschema wie folgt analysiert werden:15

(10)

[S0 [S1 Das Licht ist ausgegangen] und [S2 die Wände haben gewackelt]]16

KS KOORD1 K1 KOORD2 K2
S0 - S1 Das Licht ist ausgegangen und S2 die Wände haben gewackelt
V2 VF FINIT MF VK NF
S1 Das Licht ist - ausgegangen -
V2 VF FINIT MF VK NF
S2 die Wände haben - gewackelt -

Im Koordinationsschema KS wird das erste Konjunkt in K1 und das zweite Konjunkt in K2 analysiert. Die koordinierende Konjunktion steht in der Konjunktionsposition KOORD2.17 Beide Konjunkte bilden zusammen mit der Konjunktion die Satzreihe S0. Die satzwertigen Konjunkte S1 und S2 lassen sich in einem zweiten Analyseschritt ebenfalls topologisch analysieren. Es wird deutlich, dass es sich bei den Konjunkten um V2-Sätze handelt.

Neben finiten Sätzen können auch satzwertige Infinitivkonstruktionen topologisch erfasst werden. Für die topologische Analyse ist die Einsicht zentral, dass die funktionalen Einheiten in COMP die Form des Verbs im VE-Satz bestimmen.

(11)

VE COMP MF VK NF
a. dass man hier gut leben kann -
b. um sich nicht zu verraten -
c. sich noch von den Gästen zu verabschieden -

Die Subjunktion dass fordert ein finites Verb, wohingegen die Subjunktion um ein infinites Verb selegiert. Damit stellt sich die Frage, wodurch in Satz (11c) die infinite Verbform zu verabschieden festgelegt wird. Es wird angenommen, dass COMP eine stumme Subjunktion ∅ enthält, die zwar keine phonetische oder graphische Gestalt hat, aber ein Valenzträger ist, der eine infinite Verbform fordert.

Eine weitere spezielle Konstruktion, die sich neben satzwertigen Infinitiven topologisch analysieren lässt, sind Partikel-Verb-Konstruktionen. Partikel-Verb-Konstruktionen lassen sich topologisch von Präfixverben abgrenzen:18

(12)

V2 VF FINIT MF VK NF
a. *Sie abwenden sich von der Bühne - -
b. Sie wenden sich von der Bühne ab -
c. Sie beladen das Auto - -
d. *Sie laden das Auto be -

Bei Partikel-Verb-Konstruktionen lässt sich die Verbpartikel ab nicht zusammen mit dem Verb wenden in FINIT analysieren (12a). Stattdessen ist die Verbpartikel ab getrennt vom Finitum in VK zu platzieren (12b). Im Gegensatz dazu steht das nicht abtrennbare Verbpräfix be- zusammen mit dem Verb laden in FINIT und kann nicht separat in VK stehen (12d). Um klar zwischen Verben mit abtrennbarer Verbpartikel und Verben mit nichtabtrennbaren Präfixen zu differenzieren, spricht man auch von Partikelverben im Unterschied zu Präfixverben.19

Schließlich lässt sich die topologische Struktur des Verbalkomplexes VK näher beleuchten. Auf der Grundlage von Bech kann VK, der bei Bech als Schlussfeld bezeichnet wird, weiter in ein Ober- und Unterfeld differenziert werden:

V₂-Schema AN TF VF FINIT MF VK = Schlussfeld NF
Oberfeld Unterfeld
V₁-Schema AN TF FINIT MF VK = Schlussfeld NF
Oberfeld Unterfeld
VE-Schema AN TF COMP MF VK = Schlussfeld NF
Oberfeld Unterfeld

Für die Abfolge der Verben im Unterfeld gilt, dass auf ein Verb dasjenige Verb folgt, von dem es selegiert wird.20

(13)

VE AN TF COMP MF VK NF
Oberfeld Unterfeld
- - ob sie da noch - lachen3 können2 wird1 -
V3 V2 V₁
Das Vollverb lachen wird vom Modalverb können selegiert und steht damit vor diesem. Das Modalverb können wird seinerseits durch das finite Auxiliar wird selegiert, sodass können vor wird steht. Drückt man die Selektionsverhältnisse mit Zahlen aus und selegiert ein Verb dasjenige Verb mit der nächstgrößeren Zahl, dann ergibt sich für die Abfolge im Unterfeld folgendes Schema: V3 V2 V1. Für die Besetzung des Oberfelds, sogenannte Oberfeldkonstruktionen, gelten besondere Bedingungen: Als finite Verben können im Oberfeld nur finite Formen der Hilfsverben werden und haben stehen. Zudem müssen mindestens zwei infinite Verben auftreten.

(14)

VE AN TF COMP MF VK NF
Oberfeld Unterfeld
- - ob sie da noch wird1 lachen3 können2 -
V₁ V3 V2

Das Oberfeld ist durch das finite Auxiliar wird besetzt. Die Infinitive lachen und können verbleiben im Unterfeld. Treten mehrere Elemente im Oberfeld auf, werden sie genau gegensätzlich zum Unterfeld angeordnet: Das selegierte Verb folgt auf das Verb, von dem es selegiert wird.

(15)

VE AN TF COMP MF VK NF
Oberfeld Unterfeld
- - ob man ihn hier wird1 lassen2 liegen4 bleiben3 -
V₁ V2 V4 V3

Im Oberfeld steht das finite Auxiliar wird vor dem selegierten Modalverb lassen, wohingegen im Unterfeld das selegierte Vollverb liegen vor dem selegierenden Modalverb bleiben steht.

 


1 Für eine weiterführende Kategorisierung topologischer Modelle vgl. Froemel (2020: Kap. 2).

2 Zu beachten ist, dass das VF des uniformen Satzklammermodells nur bei V2-Sätzen mit dem VF des Differenzmodells übereinstimmt, da bei V1- und VE-Sätzen im Differenzmodell kein VF vorhanden ist. Zudem weichen LSK und COMP bei VE-Sätzen ab, da phrasale Satzeinleiter wie beispielsweise Relativpronomen zwar in COMP, nicht aber in LSK analysiert werden. Im uniformen Satzklammermodell werden phrasale Satzeinleiter im VF platziert.

3 Als Kopf oder Kern wird eine obligatorische Einheit einer Wortgruppe bezeichnet, von der weitere Bestandteile der Wortgruppe abhängen können (z. B. sind Köpfe Valenzträger und bestimmen die Form des geforderten Bestandteils). Dementsprechend bilden Verben den Kopf von Verbalgruppen.

4 Bsp. mod. nach Wöllstein (2010: 28, 29, 30).

5 Weitere Faktoren wie Verbmodus und Intonation bleiben hier ausgespart. Zentral ist, dass die LSK-Belegung einen Faktor zur Festlegung des Satzmodus darstellt.

6 Dies gilt auch für das VF. Innerhalb des uniformen Satzklammermodells wird das VF unterschiedlich verwendet. Bei V2-Sätzen steht in VF genau eine Wortgruppe, bei V1- und subjunktional eingeleiteten VE-Sätzen ist es leer, wohingegen es bei Relativsätzen oder interrogativen Nebensätzen ausschließlich durchden phrasalen Satzeinleiter besetzt ist. Das Differenzmodell setzt hingegen nur bei V2-Sätzen ein VF an.

7 Bei uneingeleiteten, satzwertigen Infinitivgruppen kann COMP auch leer sein, sofern man keine leeren Elemente annimmt, die dann in COMP zu platzieren wären (vgl. Froemel 2020: 26, 31 f.).

8 Eine Möglichkeit, auch in Differenzmodellen eine strikte Trennung von Feldern und Positionen zu gewährleisten, wird in Froemel (2020: 45 f.) diskutiert.

9 Für die Erfassung von Nicht-Standard-Mustern im Differenzmodell vgl. Froemel (2020: 46).

10 Bsp. mod. nach Wöllstein (2010: 35).

11 Laut Bildungsplan (Ministerium für Kultus Jugend und Sport Baden-Württemberg 2019: 4) steht das Differenzmodell im Vordergrund, sodass ich mich im Folgenden auf das Differenzmodell fokussiere. Es ist jedoch zu bemerken, dass die durchgeführten Erweiterungen auch beim uniformen Satzklammermodell angewendet werden können (vgl. Froemel 2020: Kap. 4). Die folgenden Ausführungen und modifizierten Beispiele gehen im Wesentlichen auf Pafel (2011) zurück

12 Unter einer Linksversetzung wird eine Wortgruppe verstanden, die von einem anaphorischen Ausdruck im Satz wieder aufgegriffen wird und mit diesem in Kasus, Genus und Numerus kongruiert.

13 Bsp. mod. nach Pafel (2011: 72).

14 Bei einer Koordination werden mindestens zwei syntaktische Einheiten derselben Art mit oder ohne Konjunktion verbunden.

15 Zu beachten ist, dass das Differenzmodell ein Koordinationsschema und keine Koordinationsposition innerhalb der Satzschemata ansetzt. Dadurch wird gewährleistet, dass die gesamte Koordinationsstruktur als Satz erfassbar ist, wodurch auch Satzreihen topologisch analysiert werden können (vgl. Froemel 2020: Kap. 6.3).

16 Bsp. mod. nach Pafel (2011: 90).

17 Die Konjunktionsposition KOORD1 ist bei paarigen Konjunktionen wie entweder oder durch den ersten Konjunktionsteil, z. B. entweder, besetzt.

18 Bsp. mod. nach Pafel (2011: 58).

19 Nach Pafel (2011: 59 f.) handelt es sich bei abtrennbaren Verbpartikeln wie ab um eigenen Wörter. Dafür spricht, dass sie nicht in FINIT auftreten können und daher nicht zum finiten Verb gehören. Zudem weicht auch die Bildung des zu-Infinitivs sowie die Bildung des Partizips Perfekt von der allgemeinen Bildungsregel ab. Beim zu-Infinitiv wird das zu nicht vorangestellt, sondern in das Verb eingefügt (z. B. abzuladen). Ebenso tritt die abtrennbare Verbpartikel ab entgegen dem allgemeinen Bildungsmuster bei der Bildung des Partizips Perfekt vor dem Flexionspräfix ge- auf (z. B. abgeladen). Dies ist erklärbar, wenn es sich bei der Verbpartikel ab um ein eigenständiges Wort handelt: Die Präfixe zu- und ge- stehen nach der Verbpartikel direkt vor dem Verb, da sie sich als Verbalpräfixe direkt mit dem jeweiligen Verb verbinden.

20 Bsp. mod. nach Pafel (2011: 67).

 

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