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Teil A

Infobox

Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.

Material 5:

Kommunikationsprozesse motivierten und strukturierten räumliche Bevölkerungsbewegungen; ob und inwieweit eine Abwanderung als individuelle oder familienwirtschaftliche Alternative verstanden wurde, hing entscheidend vom Wissen über Migrationsziele, -pfade und -möglichkeiten ab. Damit Arbeits-, Ausbildungs- und Siedlungswanderungen einen gewissen Umfang und eine gewisse Dauer erreichten, bedurfte es kontinuierlicher und verlässlicher Informationen über das Zielgebiet. Die Formen der Vermittlung waren vielgestaltig: Ein zentrales Element bildete die mündliche oder schriftliche Übermittlung von Wissen über Beschäftigungs-, Ausbildungs-, Heirats- oder Siedlungschancen durch vorausgewanderte (Pionier-)Migranten, deren Nachrichten aufgrund von verwandschaftlichen oder bekanntschaftlichen Verbindungen ein hoher Informationswert beigemessen wurde. Vertrauenswürdige, zur Genese und Umsetzung des Wanderungsentschlusses zureichende Informationen standen dem potenziellen Migranten häufig nur für einen Zielort bzw. für einzelne, lokal begrenzte Siedlungsmöglichkeiten oder spezifische Segmente des Arbeits- oder Ausbildungsmarktes zur Verfügung, sodass realistische Wahlmöglichkeiten zwischen verschiednen Zielen nicht gegeben sein mussten.
Die Bedeutung der Informationsvermittlung mit Hilfe verwandschaftlich-bekanntschaftlicher Netzwerke kann nicht überschätzt werden. Verwandte oder Bekannte bildeten z.B. die erste Station oder das direkte Ziel der Reise von 94% aller Europäer, die um 1900 in Nordamerika eintrafen. Mindestens 100 Mio. private Auswandererbriefe sind 1820-1914 aus den USA nach Deutschland geschickt worden und kursierten in den Herkunftsgebieten im Verwandten- und Bekanntenkreis.

(Jochen Oltmer. Migration im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg, 2010, 4.)

(C) Text "Kommunikationsprozesse" Text mit freundlicher Genehmigung des Verlags Oldenbourg

 

Material 6:

Staatliches Handeln bildete einen der wichtigsten Hintergründe für die Entwicklung von Zwangswanderungen als einer weiteren wesentlichen Migrationsform. Zwangsmigration war durch eine Nötigung zur Abwanderung verursacht, die keine realistische Handlungsalternative zuließ. Sie konnte Flucht vor Gewalt sein, die Leben und Freiheit direkt oder erwartbar bedrohte, zumeist aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen oder religiös-konfessionellen Gründen. Zwangsmigration konnte aber auch gewaltsame Vertreibung, Deportation oder Umsiedlung bedeuten, die sich oft auf ganze Bevölkerungsgruppen erstreckte. Nicht selten verbanden sich solche Formen mit Zwangsarbeit. Zwangsmigration war meist Ergebnis von Krieg, Bürgerkrieg oder Maßnahmen autoritärer Regime - vor allem die Weltkriege bildeten elementare Katalysatoren in der Geschichte der Zwangswanderungen im 19. und 20. Jahrhundert.

(Jochen Oltmer. Migration im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg, 2010, 5/6 .)

(C) Text "Staatliches Handeln" Text mit freundlicher Genehmigung des Verlags Oldenbourg

 

Material 7:

Die lange Dauer des Anpassungsprozesses bedingt, dass er zugleich Teil eines mehr oder minder tiefgreifenden Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Kultur im Zielraum ist. Statisch ist weder die Zuwanderergruppe noch die Aufnahmegesellschaft. Integration verändert bei größeren Bewegungen sowohl die Zuwanderergruppe als auch die Aufnahmegesellschaft, wenn auch die Anpassungsleistung  der Zuwanderer jene der Einheimischen in der Regel deutlich übersteigt. In der historischen Lebenswirklichkeit war Integration weder für die Zuwanderer noch für die Mehrheitsbevölkerung ein Globalereignis der Anpassung an eine Gesellschaft. Integration bedeutete vielmehr das permanente Aushandeln von Chancen der ökonomische, politischen, religiösen oder rechtlichen Teilhabe. Sie wurde von Individuen, Gruppen oder Organisationen in der Zuwanderer- wie in der Mehrheitsbevölkerung in ihren je verschiedenen Stadien unterschiedlich wahrgenommen und vermittelt.

(Jochen Oltmer. Migration im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg, 2010, 6 .)

(C) Text "Dauer des Anpassungsprozesses" Text mit freundlicher Genehmigung des Verlags Oldenbourg

 

Material 8:

Im Wanderungsgeschehen Deutschlands vom Ende des 18. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts lassen sich markante und grundlegende Prozesse ausmachen, an denen sich die Gliederung im Folgenden orientiert:

1. Die langfristige Verlagerung der Ausrichtung der grenzüberschreitenden Fernwanderungen von den Siedlungswanderungen nach Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, die bis in das frühe 19. Jahrhundert überwogen, zu den transatlantischen Massenauswanderungen , die in der Folge bis zum Ende des Jahrhunderts dominierten.

2. Der fundamentale Wandel der Migrationsverhältnisse durch Industrialisierung, Urbanisierung und Agrarmodernisierung im 19. Jahrhundert: Traditionsreiche agrarische Arbeitswanderungssysteme verloren sukzessive an Bedeutung, veränderten ihre Bewegungsrichtung oder gingen in neue Formen über. Das galt auch für seit Jahrhunderten existierende Wanderhandelssysteme oder für Muster der Verknüpfung von Ausbildungs- und Arbeitswanderungen , die vor allem in der Form der Gesellenwanderungen auch noch im 19. Jahrhundert weiterliefen. Neue und rapide aufstrebende industriell-urbane Zentren boten unterbürgerlichen und unterbäuerlichen Gruppen, aber auch (neuen) Mittelschichten Erwerbschancen, die zu - für Wirtschaft und Gesellschaft folgenreichen - millionenfachen internen und grenzüberschreitenden Wanderungen führten.

3. Aus dem grundlegenden Umbau von Staatlichkeit im 19. Jahrhundert resultierten vielfältige Veränderungen der Rahmenbedingungen vom Migration und Integration mit weitreichenden Folgen im 20. Jahrhundert: Nationsbildung zur Absicherung der Legitimität staatlicher Herrschaft als ein zentrales Projekt der politischen Elite des kleindeutschen Reiches wirkte dabei Ende des 19. Jahrhunderts zusammen mit „weltpolitischen“ Bestrebungen und dem Auf- und Ausbau des Interventions- und Sozialstaates, der auf die Massenpolitisierung und die weit ausgreifende Organisation politischer Interessen reagierte. Aus diesem Gefüge resultierten neue Muster der staatlichen Perzeption grenzüberschreitender und interner Migrationen bzw. Zuwanderergruppen. Sie mündeten z.T. in die Errichtung gesetzlicher und administrativer Zugangsbarrieren gegenüber jenen Gruppen, denen ein hohes Maß an Fremdheit zugeschrieben wurde, aber auch in die Öffnung privilegierter Zugänge für andere Gruppen, die als national zugehörig galten. Der Ausbau der staatlichen Ordnungs- und Interventionskapazitäten ermöglichte zugleich die Umsetzung migrationspolitischer Vorstellungen.

4. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und deren politische Folgen führten zu einer enormen Zunahme der Zwangswanderungen. Das galt für Deportation und Zwangsarbeit in den Kriegswirtschaften, für Evakuierung und Flucht aus den Kampfzonen sowie für Massenausweisung und Vertreibung nach Kriegsende. Deutschland war sowohl im und nach dem Ersten Weltkrieg als auch im und nach dem Zweiten Weltkrieg ein Zentrum des europäischen Zwangswanderungsgeschehens.

5. Die Migrationsverhältnisse in der Bundesrepublik sind ein Beispiel für die Etablierung eines neuen „Migrationsregimes“ - verstanden als migrationspolitische Prinzipien, Regeln, Entscheidungsprozeduren und institutionelle Rahmungen, die das Handeln von Akteuren prägen - Rechts- und Wohlfahrtsstaaten seit Mitte des 20. Jahrhunderts: Eine weitreichende Zulassung von ausländischen Arbeitskräften seit den 1950er Jahren mit Hilfe zwischenstaatlicher Anwerbeabkommen in einer Situation hohen wirtschaftlichen Wachstums korrespondierte bei zunehmender Aufenthaltsdauer mit einer sukzessiven Verfestigung des Aufenthaltsstatus der Zuwanderer. Damit schrumpften zugleich staatliche Spielräume zum Abbruch von Prozessen dauerhafter Niederlassung und Nachwanderung, selbst nach dem Ende der Anwerbephase 1973. In der DDR, wo Ausländerbeschäftigung ein wesentlich niedrigeres Niveau hatte, wurde demgegenüber dauerhafte Zuwanderung und Integration in der Regel verhindert. Nach der Grenzöffnung 1989/90 gewann die im Kalten Krieg auf ein Minimum beschränkte Ost-West-Wanderung erneut erheblich an Bedeutung, Z.T. knüpften die europäischen Migrationsverhältnisse wieder an die Situation vor dem Zweiten Weltkrieg an.

(Jochen Oltmer. Migration im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg, 2010, 7-9 .)

(C) Text "das Wanderungsgeschehen Deutschlands" Text mit freundlicher Genehmigung des Verlags Oldenbourg

 

Material 9:

Wir stellen uns eine „Bevölkerung“, gar eine „Gesellschaft“ gerne als etwas Bodenständiges vor, etwas Stationäres, auf Karten Abbildbares, klar zu Umgrenzendes. Gerade für das 19. Jahrhundert scheint dies auf den ersten Blick zuzutreffen: ein Jahrhundert, in dem Herrschaft sich territorialisierte und die Menschen sich durch technische Infrastrukturen in den Boden einwurzelten. Sie legten Eisenbahnschienen, gruben Kanäle, trieben Bergwerke in ungeahnte Tiefen vor. Dennoch war dies gleichzeitig eine Epoche gestiegener Mobilität. Eine charakteristische Mobilitätsform des 19. Jahrhunderts war Fernmigration: die langfristige oder lang andauernde Verlagerung des Lebensmittelpunkts über eine große Entfernung und über die Grenze zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen hinweg. Sie soll von Frontiermigration unterschieden werden, dem Nachrücken von Pionieren als Speerspitzen eines landgebundenen Vorstoßes in eine „Wildnis“ hinein. Im 19. Jahrhundert erfasste Fernmigration den größten Teil Europas und verschiedene Länder Asiens. Überall war sie ein prägender gesellschaftlicher Faktor. Ihr Antriebsmotor war der Arbeitskräftebedarf einer expandierenden kapitalistischen Weitwirtschaft. Migration betraf viele Berufe, viele Schichten, Frauen und Männer. Sie verknüpfte materielle und immaterielle Motive. Kein Auswanderergebiet und kein Einwanderungsland blieb unverändert. (....) Die „Einwanderergesellschaft“ ist eine der großen sozialen Innovationen des 19. Jahrhunderts. Für die Einwanderergesellschaften der Neuzeit war Migration der fundamentale soziale Prozess. Migration hatte, eng verbunden, drei Aspekte: Exodus und Stiftung der neuen Gemeinschaft (das Mayflower-Motiv), deren Überlebenssicherung durch weitere Zuwanderung und schließlich die expansive Ausfüllung von Räumen. Die Migrationen des 19. Jahrhunderts repräsentieren drei unterschiedliche Zeitschichten. Erstens konnten sie Migrationsfolgen abgeschlossener Prozesse der frühen Neuzeit sein, zweitens Bewegungen, die aus einer frühen Epoche ins 19. Jahrhundert hineinragten, etwa die Zuwanderung von Sklaven. Drittens findet man Ströme, die durch neue Kräfte des 19. Jahrhunderts verursacht wurde: durch die Verkehrsrevolution und die kapitalistische Schaffung von Beschäftigungschancen.

(Jürgen Osterhammel. Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Bonn: BpB, 2010, 199/200.)

(C) Text "Gesellschaft" Text mit freundlicher Genehmigung der Bundeszentrale für politische Bildung

  Teil B

 

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