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M 11 - M 12 Demokratische Legitimation?

M 11 Jürgen Habermas: European Governance ohne demokratische Legitimation?

Die Regierungschefs haben sich darauf festgelegt, jeweils im eigenen Land einen Katalog von Maßnahmen zur Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Lohnpolitik umzuset­zen, die eigentlich Sache der nationalen Parlamente (bzw. der Tarifparteien) wären. In den Empfehlungen spiegelt sich ein Politikmuster, das die deutsche Handschrift trägt. Von der wirtschaftspolitischen Weisheit der verordneten Austerität, die auf eine kontraproduktive Dauerdeflation in der Peripherie hinauszulaufen droht, will ich gar nicht reden. Ich konzentriere mich auf das Verfahren: Die Regierungschefs wollen sich jedes Jahr gegenseitig über die Schulter sehen, um festzustellen, ob denn die Kollegen den Schuldenstand, das Renteneintrittsalter und die Deregulierung des Arbeits­marktes, das Sozialleistungs- und das Gesundheitssystem, die Löhne im öffentli­chen Sektor, die Lohnquote, die Körperschaftssteuer und vieles mehr an die „Vorgaben“ des Europäischen Rates angepasst haben.

Die rechtliche Unverbindlichkeit der intergouvernementalen Vorverständigung über Politiken, die in Kernkompetenzen der Mitgliedsstaaten und ihrer Parlamente eingrei­fen, führt in ein Dilemma. Wenn die Empfehlungen zur wirtschaftspolitischen Steue­rung wirkungslos bleiben, verstetigen sich die Probleme, die damit gelöst werden sollen. Wenn jedoch die Regierungen ihre Maßnahmen tatsächlich in der beabsichtig­ten Weise koordinieren, müssen sie sich dafür zu Hause die nötige Legitima­tion „beschaffen“. Das muss aber ein claire-obscure der sanften Pression von oben und der unfreiwillig-freiwilligen Akkomodation von unten erzeugen. Was bedeutet denn das Recht der Kommission, die Haushalte der Mitgliedstaaten „rechtzei­tig“, also vor der Entscheidung der Parlamente zu prüfen, anderes als die Anmaßung, ein wirksames Präjudiz zu schaffen?

Unter diesem Grauschleier können sich die nationalen Parlamente (und gegebenen­falls die Gewerkschaften) dem Verdacht nicht entziehen, andernorts gefasste Vorent­scheidungen nur noch abzunicken, d.h. konkretisierend nachzuvollziehen. Dieser Verdacht muss jede demokratische Glaubwürdigkeit zerfressen. Das Wischiwaschi einer Koordinierung, deren rechtlicher Status absichtsvoll im Ungefähren bleibt, genügt nicht für Regelungen, die ein gemeinsames Handeln der Union erfordern. Solche Beschlüsse müssen auf beiden für Unionsentscheidungen vorgesehenen We­gen legitimiert werden – nicht nur auf dem indirekten Wege über die im Rat vertrete­nen Regierungen, sondern auch über das europäische Parlament unmittel­bar. Andernfalls wird die bekannte zentrifugale Dynamik des Fingerzeigens auf „Brüssel“ nur noch beschleunigt – die falsche Methode wirkt als Spaltpilz.

Solange die europäischen Bürger allein ihre nationalen Regierungen als Handelnde auf der europäischen Bühne im Blick haben, nehmen sie die Entscheidungsprozesse als Nullsummenspiele wahr, in denen sich die eigenen Akteure gegen die anderen durchsetzen müssen.

Die nationalen Helden treten gegen „die anderen“ an, die an allem schuld sind, was „uns“ das Monster Brüssel auferlegt und abverlangt. Nur im Blick auf das von ihnen gewählte, nach Parteien und nicht nach Nationen zusammengesetzte Parlament in Strassburg könnten die europäischen Bürger Aufgaben der wirtschaftspolitischen Steuerung als gemeinsam zu bewältigende Aufgaben wahrnehmen.

Eine anspruchsvollere Alternative bestünde darin, dass die Kommission diese Aufga­ben auf dem demokratischen Wege des „ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens“, also mit Zustimmung von Rat und Parlament ausübt. Das würde allerdings eine Kompe­tenzverlagerung von den Mitgliedstaaten auf die Union verlangen, und eine derart einschneidende Vertragsänderung erscheint einstweilen als unrealistisch. (...)

(C) J. Habermas; Ein Pakt für oder gegen Europa; (2011: 2 ff.). Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Alternative Quelle: http://www.blaetter.de/aktuell/dokumente/juergen-habermas-ein-pakt-fuer-oder-gegen-europa

M 12 Das Problem der demokratischen Legitimation transnationaler Entschei­dungsprozesse

12a Befähigung zur Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen in der EU.

Quelle: Rappenglück (2005: 459, 462)

M 12 b Timm Beichelt: Analytische Kernbegriffe der Demokratietheorie

Quelle: Beichelt (2009: 306 f.).

M 12 c Europäisierung: die Transformation der repräsentativen zur responsi­ven Demokratie?

Quelle: Beichelt (2009: 326 – 330).

 

Weiter: M 13 - M 15 Europäisches Semester?

 

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