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Sachanalyse und didaktischer Kommentar

1.6

Das vorliegende Unterrichtsmaterial versteht sich als Einstieg in das Thema "Ordnung – Freiheit, Kontrolle – Zufall", das der Bildungsplan Musik von 2016 für die Klassen 9 und 10 als Leitfaden für die Auseinandersetzung mit Musik des 20. oder 21. Jahrhunderts formuliert.

Leitthema (1) ist die Frage nach der Bedeutung von Ordnung und Freiheit für die Musik. Diese wird hier zugespitzt auf die Frage (1a), was Musik und mathematische Ordnung gemeinsam haben.  

Die beiden ausgewählten Musikbeispiele, die "Counting duets" von Tom Johnson von 1982 und der "Cantus in memoriam Benjamin Britten" von Arvo Pärt von 1977 verschreiben sich beide einer strengen, mathematisch-rationalen Ordnung. Sie bieten daher einen idealen Einstieg in diese Thematik. Als Gegenpol bietet sich anschließend die Auseinandersetzung mit Cages Zufall-Musiken an.

Musikhistorisch gesehen knüpfen nicht wenige streng rational arbeitende Komponisten (Webern, Messiaen, Pärt usw.)  des 20. Jahrhunderts bewusst an die quadriviale Musik-Tradition des europäischen Mittelalters an, die ihrerseits ihre Wurzeln im antiken Musikbegriff hat und sich im Modell der Sphärenharmonie zusammenfassen lässt. In dem gegenwärtig vorherrschenden Musikbild scheint diese Tradition durch eine verflachte romantisierende, rein emotionale Auffassung von Musik verdeckt. Ein auch reflexiver Umgang mit Musik in der Oberstufe sollte diese Tradition wieder ins Bewusstsein rücken.

Die allgemeine Frage nach Verbindungen von Musik und Mathematik lässt sich leicht klären, indem man die Bereiche Zeitordnung (Notenwerte, Taktarten, Zählen beim Musizieren), Tonhöhen (Akustik, Naturtonreihe, Intervalle, Generalbassbezeichnungen) und polyfone Spielformen (Imitation, Kanon, Umkehrung, Krebs, Krebsumkehrung, Vergrößerung, Verkleinerung) durchgeht. Philosophisch gesehen bringt Leibniz die mathematische Seite der Musik in seiner bekannten Bezeichnung der Musik als "verborgene arithmetische Übung des Geistes" auf den Punkt1.

Der in Paris lebende amerikanische Komponist Tom Johnson, der gerne als Minimalist bezeichnet wird, geht der Verbindung von Musik und Mathematik in seinen Stücken auf spielerische Art nach. Dieses Interesse schlägt sich besonders radikal und einfach in den "Counting Duets" nieder, deren Notation nur noch aus Zahlen besteht, die durch das Schriftbild und Ergänzungen wie Tempoangaben, Taktstrichen und der Angabe von Taktarten zeitlich strukturiert sind.

Die zweistimmigen "Counting Duets" entwickeln sich als polyfone Überlagerungen von gesprochenen Zahlenfolgen. Beim 1. Duett stellt die 2. Stimme, die jeweils versetzt zur ersten gesprochen wird, deren Umkehrung dar. Beim 4. Duett nehmen die Folgestimmen nur jeden zweiten Ton der vorangehenden Stimme auf, so dass sie rhythmisch deren Augmentation im Verhältnis 2:1 bilden, bis beim 6. Stimmeinsatz die Zahlenabstände auf das 32-fache gewachsen sind. Sowohl klanglich als auch als subjektive Herausforderung an die Sprecher ist die Aufführung in verschiedenen Sprachen reizvoll.

Für die Realisation der Zählduette im Klassenunterricht empfiehlt sich zunächst eine frontale oder V-förmige Aufstellung in zwei Reihen, so dass die beiden chorischen Gruppen sich im Sinne eines vokalen Wettstreites aufeinander beziehen können. Bei großen Schülergruppen können dann die einzelnen Zahlen einzelnen Schülern zugewiesen werden. Später lassen sich die Zahlen durch Geräusche, freie Vokalaktionen oder Gesten ersetzen. Anspruchsvoll ist der Versuch, die Zahlenduette mit Tonhöhen zu singen. Bei der Instrumentenwahl ist grundsätzlich ein breites Spektrum hilfreich, um klanglich möglichst vielfältige Ergebnisse zu erreichen.

Tom Johnson hat in vielen anderen Stücken mathematische Strukturen mit Sprechtexten verbunden. Empfohlen seien insbesondere die humoristischen Stücke "Eier und Körbe" bzw. "Gutenachtgeschichten". Am wirkungsvollsten scheint mir in dieser Hinsicht sein Stück "Narayanas Kühe", in dem die steigende Population von Kühen mittels einer mathematischen Formel verklanglicht wird. Jede neue Generation erhält einen tieferen Ton. Der Sprecher zählt auf, wie viele neue Kälber pro Generation geboren werden, was dann in einer rasend schnellen einstimmigen Tonfolge nachgespielt wird. Die Phrasen nehmen sehr schnell eine große Länge an und durch den Wechsel von Viertel und Achteln entsteht eine spritzige Musik, deren sogartiger Expansion man sich kaum entziehen kann.2

Arvo Pärts "Cantus in memoriam Benjamin Britten" für Streichorchester und Glocke stellt einen suggestiven Klangstrom dar, der sich in absteigenden Wellen von zarten hohen Geigenklängen bis zum scheinbar ewig gehaltenen sehr lauten a-Moll-Dreiklang steigert. Der klagende Abwärtsgestus, das Crescendo über mehr als 10 Minuten und die ständig wiederkehrenden Glockentöne verleihen dem Stück eine ganz eigene religiöse Aura. Strukturell gesehen ist das Stück gänzlich durchorganisiert und lässt sich als Proportionskanon basierend auf der absteigenden, natürlichen A-Moll-Skala erklären. Diese Bewegung beginnt beim hohen Grundton und schreitet von dort aus sukzessiv immer einen Ton weiter nach unten. In Zahlen übersetzt ergibt sich die Folge 8 87 876 8765 usw.3 Im Unterschied zu den gleichmäßig durchlaufenden "Counting Duets" herrscht hier die Folge lang-kurz in der Relation 2:1 vor. Die vier Folgestimmen setzen im Sinne eines Proportionskanons zeitversetzt ein und verdoppeln jeweils die Notenwerte. Bewegt sich die beginnende Violine 1 in Halben und Vierteln, so sind diese Grundwerte in der letzten, der Kontrabass-Stimme, sechzehn Mal länger. Die jeweils zweite Teilstimme ergänzt – das ist typisch für die Stücke im sogenannten Tintinnabuli-Stil Arvo Pärts – im Tempo der jeweiligen Skalenstimme absteigende Dreiklangstöne von A-Moll.

In einem Interview mit Paul Hillier hat Pärt klare Hinweise zur Deutung seiner Tintinnabuli-Stücke gegeben. Die Tonleiterstimmen, er spricht von der melodischen Stimme, der M-voice, repräsentieren das irdische und subjektive Leben mit seinem Leid, die Dreiklangs- oder Glöckchenstimmen, die tintinnabuli oder triadic voice, T-voice4, das himmlische Leben und die göttliche Gnade5. In seinem vollständigen Titel "Cantus in memoriam Benjamin Britten" weist Pärt das Stück als klingendes Requiem für den bewunderten englischen Komponisten aus, dessen Musik er gerade wegen seiner, wie er selbst sagt "ungewöhnlichen Reinheit" zu schätzen begann und den er aber nicht mehr persönlich kennen lernen konnte.6 Diese Hinweise lassen den "Cantus" als große Trauermusik erscheinen, in welcher die Lebenslinien der Tonleiterstimmen in ihren Überlagerungen immer wieder Dissonanzen bilden, die sich im scheinbar ewigen Schlussdreiklang auflösen. Schüler eines Oberstufenkurses fassten ihren Höreindruck in das Bild eines Wasserlaufes, der immer mehr anschwillt und dessen Wasser sich schließlich im Ozean verlieren. Wichtig für das tiefere Verständnis dieser Bedeutungsebene ist der Hinweis von Pärt, dass die beiden Schichten keine unlösbare Dualität darstellen, sondern letztlich eine Einheit sind.

Auch wenn die besprochenen Kompositionen von Johnson und Pärt strukturell vergleichbar sind, unterscheiden sie sich in Klang und Wirkung extrem. Hier eine religiös-meditative Gedenkmusik, dort ein humoristisches Spiel, das durch seine Spritzigkeit aber auch durch das Aufeinanderprallen artikulatorischer Virtuosität und blanker, struktureller Transparenz amüsieren kann. Beide Stücke führen zu der ästhetischen Erkenntnis, dass Musik ein Zusammenspiel rationaler und emotionaler Kräfte darstellt, wobei auch emotional wirkungsvolle Stücke eine deutlich ausgeprägte rationale Struktur haben können.  Andererseits eröffnet die Auseinandersetzung mit solch extrem rational geordneter Musik die Frage nach dem Gegenpol, nach Freiheit und der Rolle des Zufalls in der Musik und bietet daher einen idealen Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit weiteren Stationen der Neuen Musik in Klasse 10.

Der Unterrichtsgang sieht einen Wechsel zwischen musikalischer Praxis und Reflexionsphasen vor.
Die erste Reflexionsphase geht der Diskussionsfrage nach, ob Tom Johnsons "Counting duet 1" als Musik einzustufen ist (2): Was an diesem Zählduett kann als musikalisch beschrieben werden und worin unterscheidet es sich zugleich signifikant von "traditioneller" Musik?

Aus dieser Diskussion soll eine zweite Praxisphase abgeleitet werden, die sich in verschiedenen Varianten der Aufgabe widmet, die Zählduette zu "musikalisieren", indem z.B. gezielt definierte Tonhöhen eingesetzt werden (2a). Die Ergebnisse dieser Phase sollen auf zwei Ebenen genutzt werden, einerseits als ästhetische Würdigung, dann als analytische Hörbeschreibung, die die Machart der kleinen Stücke beleuchtet und nochmals zu Frage (1b) zurückkehrt. Das umfangreiche Aufgabenangebot für diese Gruppenarbeit soll Differenzierungsmöglichkeiten bieten. Als Hilfsgeländer werden z.B. konkrete Skalen genannt. In diesem Paket findet sich auch die als Zahlenfolge notierte Tonfolge, die dem "Cantus" von Arvo Pärt zugrunde liegt. Sowohl für die praktischen Ergebnisse als auch für das Leitthema (1) bedeutsam ist die "Freiheitsklausel", die den Gruppen die kreative Freiheit eröffnet, Regeln zu modifizieren oder außer Kraft zu setzen.

Die konventionelle Auseinandersetzung mit dem "Cantus" von Arvo Pärt setzt das assoziative Hören an den Beginn, bevor der Horizont von Requiem und Ewigkeit thematisiert wird und mit der Struktur des Stückes in Beziehung gesetzt wird.  Dann folgen als zweite Reflexionsphase ein Vergleich der beiden Stücke und der Versuch die zentralen Themenstellungen (1-2) nochmals zu beleuchten und abschließend die Bedeutung der "Counting duets" von Tom Johnson zu umreißen.

Zu Leitthema (1) kann es kein abschließendes Ergebnis geben. Ziel ist vielmehr, das existentielle Kräfteverhältnis von Freiheit und Ordnung in seiner ästhetischen Bedeutsamkeit anhand von für die Neue Musik typischen Extrembeispielen neu zu erfahren und zu problematisieren.
Eine große Rolle für die Akzeptanz oder Ablehnung von Musik spielt dabei sicher, ob die jeweilige Ordnung als fassbar, zu hoch oder zu simpel wahrgenommen wird. Andererseits werden offensichtlich viele Ebenen der musikalischen Ordnung beim Hören nicht bewusst, vielleicht aber unbewusst wahrgenommen, wie Leibniz grundsätzlich für Musik formuliert7. Das dürfte für das Hörerlebnis des "Cantus"  gelten, wohingegen es Tom Johnson ganz wie seinen amerikanischen Kollegen der so genannten Minimal Music explizit darum geht, Form und Ordnung nicht zu verschleiern sondern deutlich hörbar zu machen.

Das Leitthema 1a ist oben schon erörtert worden, sollte aber im Unterricht am Ende dieses Moduls ruhig wiederholt werden. Interessant wäre hier die Vertiefung hin zum Modell der Sphärenharmonie, wo mathematische Ordnungen auf den ganzen Kosmos, von der Astronomie bis zum Mikrokosmos ausgeweitet werden und Musik als klingender Spiegel der Weltordnung zu einem der quadrivialen Hauptfächer aufgewertet wird.

Das Leitthema 2 nach der Grenzziehung bleibt natürlich letztlich von einem subjektiven Werturteil abhängig. Interessanter als die konkrete Grenzziehung ist daher der Versuch einer ästhetischen Begründung. Dabei erweist sich insbesondere das Verhältnis von Ordnung und Freiheit, von Kontrolle und Zufall als zentral. Blanke Schematik wie pures Chaos erscheinen vielen als nicht kunstgemäß. Neue Musik provoziert seine Hörer gerne durch solche Grenzerfahrungen, z.B. um alte Vorstellungen in Frage zu stellen oder die Hörer anzuregen, ihre Wahrnehmung zu verändern. Spahlinger äußerte dazu die flotte Formel, dass Neue Musik sich dadurch auszeichnet, dass sie die Fragestellung, ob es sich noch um Musik handelt, immer mitformuliert. Für Schüler lässt sich diese Frage gut an den Zählduetten von Johnson nachvollziehen.

Die Bedeutung  der "Counting duets"  liegt vielleicht in dem spielerisch-humoristischen Umgang mit der Kulturtechnik des Zählens. Tom Johnson legt in seinem Vorwort8 einen besonderen Wert darauf, den Einfluss dieser Kulturtechnik im Alltag nachzuzeichnen. Beide Stücke erinnern damit an eine wesentliche Quelle der Musik, nämlich an die seit der Antike thematisierte enge Verbindung von Mathematik, Rationalität und Musik.

1"Die Musik ist eine verborgene arithmetische Übung des Geistes, der nicht weiß, daß er zählt. ... Wenngleich also die Seele nicht merkt, daß sie zählt, so spürt sie doch die Wirkung dieses unmerklichen Zählens, das heißt das sich ergebende Vergnügen bei der Konsonanz und das sich aus der Dissonanz ergebende Beschwerliche." LEIBNIZ, Gottfried, W.: Brief an Goldbach vom 17.4.1712, Leibniz, Epistolae ad diversos, Bd. l, 241, Leipzig 1734

2Alle Stücke sind im Eigenverlag des Komponisten erschienen und über ihn zu beziehen: Tom Johnson, Editions 75, 75, rue de la Roquette, 75011 PARIS

3Siehe Gruppenarbeit S.5, Aufgabe e.

4Paul Hillier, Arvo Pärt, Oxford, 1997, S.92 f.

5Paul Hillier, Arvo Pärt, Oxford, 1997, S.96: "In one of our discussions about tintinnabuli, Pärt described to me his view that the M-voice always signifies the subjective world, the daily egoistic life of sin und suffering; the T-voice, meanwhile, is the objective realm of forgiveness. The M-voice may appear to wander, but is always held firmly by the T-voice. This can be likened to the eternal dualism of body and spirit, earth and heaven; but the two voices are in reality one voice, a twofold single entity. This can be neatly though enigmatically represented by the following equation (Proposed by Mrs Pärt, and warmly endorsed by the composer): 1 + 1 = 1

6Paul Hillier, Arvo Pärt, Oxford, 1997, S.103

7Siehe Anmerkung 1

8Siehe Material S.12

 

Musik aus Zahlen? Ordnung und Freiheit in der Neuen Musik: Herunterladen [docx][299 KB]

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