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AB 2-5: Erster Weltkrieg und das Osmanische Reich

M1 Die türkische Frauenrechtlerin Halide Edip zum Kriegsausbruch des Ersten Weltkriegs

Die Schriftstellerin Halide Edip Adıvar (1884–1964) war vor und im Ersten Weltkrieg als Lehrerin und Schulinspektorin tätig. Später schloss sich die Frauenrechtlerin der türkischen Unabhängigkeitsbewegung unter Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, an. Als es zum politischen Bruch mit ihm kam, emigrierten sie und ihr Mann nach England und kehrten erst nach Atatürks Tod 1938 wieder in die Türkei zurück. Halide Edip Adıvars Lebensgeschichte, die sie zunächst auf Englisch, später auch in türkischer Sprache niederschrieb, spiegelt die dramatischen Veränderungen ihres Landes zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit kritischem Blick kommentierte sie die Situation ihres Landes vor Eintritt in den Ersten Weltkrieg:

Für die gesamte Welt war der Erste Weltkrieg das einschneidendste Ereignis dieses Jahrzehnts. Als nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers der Krieg ausbrach, begriffen wohl die wenigsten der beteiligten Völker, dass dieser der zukünftigen Welt ein völlig neues Gesicht geben würde.

[…] Ich bin grundsätzlich gegen den Krieg und will unseren Eintritt in den Ersten Weltkrieg hier auch gar nicht verteidigen. Die Gründe der jungtürkischen Führer für diesen Schritt lassen sich bei genauerer Betrachtung aller damals vorgebrachten Argumente meiner Meinung nach so auflisten: An erster Stelle stand der Wunsch nach vollständiger Unabhängigkeit durch die Aufhebung der Kapitulationen1. Die Jungtürken hatten sich vergeblich um das Verständnis der Alliierten bemüht, welche die Neutralität der Türkei ohne Gegenleistung verlangten. Der zweite Grund war die berechtigte ewige Angst vor dem russischen Imperialismus. Die jungtürkischen Führer waren überzeugt, dass England die Türkei als Köder einsetzen würde, um Russland auf seine Seite zu ziehen. Dann war da drittens die beklagenswerte finanzielle Situation der Türkei. Selbst um seine Neutralität zu wahren, wäre das Land auf finanzielle Unterstützung angewiesen gewesen, die es von den Alliierten nicht erwarten konnte. Viertens spielte auch die entschieden prochristliche Haltung der Alliierten eine Rolle, die stets ganz offen die Minoritäten dabei unterstützten, auf Kosten der muslimisch-türkischen Mehrheit eine wirtschaftliche und sogar politische Vormachtstellung zu gewinnen. Und fünftens schließlich hatte Deutschland die Schwachpunkte der türkischen Situation klar erkannt und mit psychologischem Geschick im rechten Moment eingegriffen.

1 Handelsverträge des Osmanischen Reichs mit europäischen Mächten (meist zu Ungunsten des Osmanischen Reichs)

Halide Edip Adıvar: Mein Weg durchs Feuer. Erinnerungen, Türkische Bibliothek, aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen, Zürich 2010. S. 198f.

M2 Der Turkologe Hans-Lukas Kieser zur Rolle des 1. Weltkriegs im Hinblick auf die Armenier

Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es nicht zum Völkermord kommen können. Was sich vorerst als ein drohender weiterer Balkankrieg präsentierte, weitete sich in der aufgeheizten politischen Atmosphäre im Juli 1914 zu einem allgemeinen Krieg aus. Während die deutsche Regierung noch Anfang Juli — während der Julikrise — einen Vorschlag Envers für ein deutsch-türkisches Militärbündnis abgelehnt hatte, ging es wenige Wochen später darauf ein, da es sich unter Zugzwang sah. Am 2. August schlossen beide Staaten einen Geheimvertrag, der wegen des bereits begonnenen Krieges mit Russland den osmanischen Kriegseintritt zwingend verlangte.

Zur Entlastung ihrer Ostfront drängte die deutsche Führung auf eine rasche osmanische Aktion gegen Russland. Envers Kaukasusfeldzug führte jedoch Ende 1914 zu einem Fiasko, ähnlich die Kampagne seines blutjungen Schwagers Cevdet in Nordpersien einige Wochen später. Die Folge war ein brutalisierter Kleinkrieg mit Beteiligung von Milizen. Viele zivile Opfer im Grenzgebiet Ostanatoliens und eine zunehmende, vom Komitee geschürte antichristliche Stimmung waren die Folge. Cevdet war Militärführer und auch Gouverneur der Provinz Van an der Grenze zu Persien und Russland.

Das jungtürkische Komitee legte den osmanischen Armeniern mehrere Punkte als kollektiven Verrat aus: Armenische Wortführer hatten Ende 1912 die europäische Diplomatie ersucht, sich für Reformen im Sinne des Berliner Vertrags einzusetzen. So kam auf russischen und deutschen Druck ein Reformplan für Ostanatolien zustande, den der Großwesir am 8. Februar 1914 unterzeichnete. Der Plan sah eine verbesserte Sicherheit, mehr Demokratie, die Rückgabe geraubten Landes, die ausgeglichene Beteiligung aller Volksgruppen in staatlichen Organen, den amtlichen Gebrauch regionaler Sprachen sowie die internationale Kontrolle durch zwei Generalinspektoren vor. Nach Kriegsbeginn gehörte es zu den ersten Maßnahmen der Komiteeregierung, die vereinbarten Reformen im August bzw. Dezember 1914 zu suspendieren und aufzuheben. Auch dies verstärkte die Ablehnung des Kriegsbündnisses seitens der osmanischen Armenier.

Im August 1914 lehnten die Daschnaken2 das selbstmörderische Ansinnen des jungtürkischen Komitees ab, zur Unterstützung der osmanischen Kriegführung in Russisch-Armenien eine Guerilla gegen das zaristische Regime anzuzetteln. Einige tausend junger Armenier liefen zur russischen Armee über. Im April 1915 schließlich wehrten sich armenische Milizen der Stadt Van gegen Cevdets Streitkräfte, nachdem dieser schon viele Armenier auf dem Land hatte massakrieren lassen. Dank eines russischen Vorstoßes Mitte Mai entkamen sie der Vernichtung, verübten indes zahlreiche Racheakte an den Muslimen der Stadt.

Der „armenische Aufstand von Van“ nährt bis heute die Legende vom armenischen Dolchstoß in den Rücken des osmanischen Staates. Die jüngst zugänglich gewordenen osmanischen Militärquellen stützen die These eines allgemeinen armenischen Aufstandes, die Talat in längeren Telegrammen an das Militär und die Provinzgouverneure am 24. April 1915 verbreitete, keineswegs. „Bisher kein Mut zu einer ernsthaften, allgemeinen Revolutionsbewegung", stellte ein Militärtelegramm aus Hasankale (Erzurum) Mitte April fest. Einen Monat später begann dort die allgemeine „Verschickung".

2 Mitglieder der armenischen Partei Daschnakzutjun: Die Armenische Revolutionäre Föderation wurde 1890 in Georgien durch den Zusammenschluss verschiedener armenischer Gruppierungen gegründet. Die Partei, deren Mitglieder Daschnaken genannt wurden, verstand sich als Teil der sozialistischen Bewegung. Zugleich vertrat sie die nationalen Interessen der Armenier im Osmanischen und im Russischen Reich.

Hans-Lukas Kieser, Der Völkermord an den osmanischen Armenier, in: Corry Guttstedt (Hg.) Wege ohne Heimkehr – Die Armenier, der Erste Weltkrieg und die Folgen, Berlin/Hamburg 2014, S.- 10-26, S. 10ff

M3 Die Niederlage im Winter 1914/15

Der Anlass [für die Vertreibung der Armenier, Anm. DG] war die paranoide Verarbeitung einer militärischen Niederlage3. Im Winter 1914/15 scheiterte ein von Eroberungsträumen im russischen Kaukasus getragener Feldzug unter enormen Verlusten. Die Niederlage war umfassend, und sie bekräftigte im dramatischen Gegensatz zu den hochfliegenden Erwartungen einer »Befreiung« der zentralasiatischen Turkvölker vom russischen Joch noch einmal alle alten Bilder des osmanischen Niedergangs, so dass es niemandem unter der Androhung von harten Strafen erlaubt wurde, öffentlich darüber zu sprechen. Zumal die Russen nun jederzeit den Osten Anatoliens bedrohen konnten, während gleichzeitig die englische und französische Flotte einen Angriff auf die Dardanellen vorbereiteten, was im Erfolgsfall eine Auflösung des Osmanischen Reichs zur Folge gehabt hätte. Obwohl über 200.000 Armenier in den Reihen der osmanischen Armee kämpften und es auch armenische Soldaten waren, die im Januar geschlagen zurückkehrten, setzte sofort unter ihnen die Suche nach den Schuldigen des Desasters ein. Man unterstellte ihnen Illoyalität und die klammheimliche bis offene Unterstützung des russischen Feindes. Eine armenische Dolchstoßlegende, so Ronald Grigor Suny, die pathologische Annahme, dass eine ganze Bevölkerungsgruppe kollektiv eine „Gefahr für die Staatssicherheit“ darstellte, war damit aus der Taufe gehoben. In den folgenden Monaten wuchs sie sich bei den Führungseliten des Osmanischen Reichs zu der paranoiden Vision eines in Anatolien bevorstehenden gesamtarmenischen Aufstands aus. Tatsächlich war die Kriegslage besorgniserregend. Die Möglichkeit eines militärischen Untergangs vor Augen, erklärte Innenminister Mehmet Talaat Anfang Februar 1915 gegenüber dem deutschen Botschafter Wangenheim, dass die Armenier sich im weiteren Kriegsverlauf in jedem Fall auf die Seite der Gegner schlagen würden. Man müsse rechtzeitig etwas gegen diese Bedrohung unternehmen. Wangenheim erklärte den Zeitpunkt für ungünstig gewählt, aber Talaat antwortete: C'est le seule moment proprice — Das sei der einzige richtige Augenblick. Es war, mit dem Blick des Historikers gesehen, aber auch der richtige Augenblick für eine Gelegenheit.

3 Gemeint ist die verheerende Niederlage der Osmanen bei Sarikamis im russisch-osmanischen Grenzgebiet gegen die russischen Truppen.

aus: Rolf Hosfeld: Unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Der Völkermord an den Armeniern, in: Bulletin des Fritz Bauer Instituts Einsicht 15, 8. Jahrgang, S. 14–21, Frankfurt April 2016, S. 15

M4 Der Ruck: die Nationalisierung des osmanischen Militärs

Dass es bei den Unionisten4 einen Ruck gegeben und sie ihre internen Streitigkeiten hintangestellt hatten, erfuhr ich in der Zentrale im Büro von Ziya Gökalp5 selbst, der nie viele Worte machte, und von jungtürkischen Denkern, die vor allem kamen, um mit ihm zu reden. Sie hatten erkannt, dass die Zeit gekommen war, sich mit ganzer Kraft auf die Rettung des Türkentums zu konzentrieren und den Rest des Landes, den man noch in Händen hielt, als Vaterland der Nation zu gestalten und zu erhalten.

War früher von Nation die Rede, verstand man darunter das Türkentum in Rumelien6. Die Grenzen der Nation verliefen vielleicht bei Bursa und Eskisehir. Anatolien gab uns nicht das Gefühl eines »Ganzen«. Die regionalen Dialekte waren so unterschiedlich, dass man sich gegenseitig nicht verstand. Türken aus Konya, Trabzon und Bitlis7 konnten nicht miteinander verschmelzen wie die aus Skopje, Manastir und Saloniki8. Anatolien fiel uns nur ein, wenn es darum ging, jemanden aus Istanbul in die Verbannung zu schicken, oder wenn, wie in Albanien oder im Jemen geschehen, wieder Zehntausende zu Tode kommen würden. Da auch die Araber abgefallen waren, lag die letzte Heimstätte des Türkentums nun also hier.

4 Gemeint sind die sog. Jungtürken: Anfang 1913 erlangten die Mitglieder des Zentralkomitees für Einheit (engl.: Union) und Fortschritt im Zuge eines Putsches eine Vormachtstellung. Viele von ihnen stammten aus Regionen, die das Osmanische Reich in den vergangenen Kriegen verloren hatte. Führungspersönlichkeiten der Einparteien-Diktatur des Komitees für Einheit und Fortschritt waren Talaat Pascha, Enver Pascha und Cemal Pascha.

5 Schriftsteller und nationalistischer Vordenker der Jungtürken

6 Bezeichnung für die vormalig europäischen teile des Osmanischen Reichs

7 Städte in Anatolien

8 Städte im europäischen Teil des Osmanischen Reichs (heute: Makedonien und Griechenland)

aus: Falih Rıfkı Atay: Der Ruck, in: Hundert Jahre Türkei. Zeitzeugen erzählen, Türkische Bibliothek, Zürich 2010, S. 74-75.)

 

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