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AB 4-1: Die Dritte Generation

Der Völkermord in der dritten Generation

Fethiye Çetin schildert, wie die Erzählung ihrer Großmutter auf sie gewirkt hat.

Es klingelte an der Tür, Besucher kamen. Meine Großmutter hielt inne. Auch ich war erschöpft vom Zuhören. Ich konnte mich nur schwer beherrschen, mir war danach, auf die Straße zu rennen und loszuheulen. Ich hätte all das nicht geglaubt, wenn es nicht meine Großmutter erzählt hätte. Was ich von ihr erfahren hatte, passte nicht zu dem, was ich wusste. Meine Kenntnisse wurden damit völlig infrage gestellt. Meine Wertvorstellungen wurden durch Großmutters Erzählung in tausend Stücke zerschlagen, und durch den schrecklichen Wirrwarr, den sie in meinem Innern angerichtet hatte, pochte und schmerzte mein Hirn. Mein Körper wurde von einer Angst beherrscht, die alles, was in ihm war, ausstoßen und sich auf jedes Ding und jedermann ausdehnen wollte.

Einige Bilder, die in meiner Fantasie lebendig waren, standen mir unentwegt vor Augen, egal ob ich sie offen oder geschlossen hielt; wie man die Menschenmenge im Hof der Kirche warten ließ; die weit aufgerissenen Pupillen der Kinder; wie die kleinen Mädchen ins Wasser geworfen wurden und ihre Köpfe aus Überlebensinstinkt herausstreckten; der Augenblick, als Heranus1 von ihrer Mutter getrennt und weggeführt wurde. Über all diesen Szenen schwebte mein Gesicht, wie ich als Schülerin an den Feiertagen Gedichte vortrug. Da ich zu denen gehörte, die am besten rezitieren konnten, ließen mich meine Lehrer an den Feiertagen immer die Heldengedichte aufsagen. Die Gedichte über die »ruhmreiche Vergangenheit«, die ich so pathetisch vortrug, wurden in tausend Stücke zerfetzt, als ich an die vor Furcht aufgerissenen Kinderaugen und an ihre Köpfe dachte, die im vom Blut roten Wasser dahinschwammen.

In jener Nacht konnte ich nicht schlafen. Am folgenden Tag lief ich wie ein Gespenst umher. Meine Großmutter und ich waren nicht allein im Haus, wir konnten uns nicht miteinander unterhalten, denn damals kamen viele Besucher zu uns. Es verging danach viel Zeit, bis ich wieder Gelegenheit fand, mit meiner Großmutter allein zu sprechen. Das war aber vielleicht gut so, denn in dieser Zeit konnte ich das alles verarbeiten und den inneren Konflikt, in den ich geraten war, austragen.

1 Heranus: der armenische Vorname der Großmutter.

aus: Fethiye Çetin: Meine Großmutter, in: Hülya Adak, Erika Glassen (Hrsg.): Hundert Jahre Türkei. Zeitzeugen erzählen. Türkische Bibliothek, S. 495–510, Zürich 2010, S. 495ff.

 

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