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Ethische Urteilsbildung I: Vorbemerkungen

Einführende Überlegungen

Gehört „ethische Urteilsbildung“ immanent zum Religionsunterricht?

Natürlich geht es im Religionsunterricht (RU) ebenso wie in anderen gesellschaftswissenschaftlichen und sprachlichen Fächern um moralisch relevante Fragen. Es geht darum, was in konkreten Situationen unter „Gutsein“ zu verstehen ist.

Konkreter um die Frage: „Was ist gutes Handeln?“. Hier berührt der RU immer wieder die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler (SuS) ganz direkt.

Ethische Urteilsbildung im RU ist hinsichtlich zweier Fragenkomplexe zu analysieren:

  1. Was ist das Besondere einer christlichen ethischen Urteilsbildung? Was unterscheidet eine christliche von einer rein philosophischen Ethik? Was unterscheidet ethische Urteilsbildung im RU von der im Fach Ethik?
  2. Wie kann ethische Urteilsbildung didaktisch eingeführt werden? Welche prozessbezogenen sowie inhaltsbezogenen Kompetenzen können im RU bei der ethischen Urteilsbildung vermittelt und angebahnt werden?

Zu 1) Was ist das Proprium einer spezifisch christlichen ethischen Urteilsbildung?

Betont man die Autonomie des Menschen, dann rückt die Urteilsbildung auf die Seite einer philosophischen Ethik. So sei z.B. nach Auer „… das `Einmaleins´ des Sittlichen […] nicht spezifisch christlich. Eine solche autonome Moral kann (muss aber nicht) im Rahmen des christlichen Glaubens gelebt werden.“2 Der christliche Glaube dominiere nicht die autonome Vernunft beim Finden und Entscheiden sittlicher Probleme, sondern die menschliche Vernunft verweise auf die Wissenschaften, die sich mit dem Humanum befassen. Der Glaube jedoch stelle für die autonome Vernunft und auf das jeweilige ethische Urteil hin bezogen einen christlichen Sinnhorizont dar, der eine kritisierende, stimulierende und integrierende Funktion und Wirkung besitze.3

Konträr dazu stehen Ansätze, die das christliche Proprium hervorheben und dieses z. B. in einem durch die Offenbarung zugänglichen Heilsethos sehen – oder den Glauben gar als „Super-Norm“ funktionalisieren.4
Eine Möglichkeit aus protestantischer Sicht nach dem Proprium einer christlichen Ethik zu fragen, stellt ein Ansatz von Härle dar, der den Unterschied von christlicher zur philosophischen Ethik in den Blick nimmt und betont, dass dieser Unterschied nicht in einer angeblichen Voraussetzungslosigkeit der philosophischen Ethik bestehe, denn auch diese weiß sich bestimmten Sichtweisen auf die Wirklichkeit verpflichtet. Der Unterschied liege vielmehr darin, dass die christliche Ethik auf Grundlage spezifischer, eben christlicher, Voraussetzungen, die Welt betrachtet.5
Hinsichtlich einer evangelischen Ethik spricht Härle von vier Grundüberzeugungen:

  • „Die Welt ist Gottes Schöpfung, die dem Menschen zur verantwortlichen Gestaltung anvertraut ist.
  • Der Mensch ist zum Ebenbild Gottes geschaffen und hat daher eine unantastbare Würde, die in Gottes Beziehung zu ihm gründet.
  • Die ethische Forderung an den Menschen erreicht ihren Höhepunkt im Doppelgebot der Liebe.
  • Die ethisch angemessene Motivation zum Tun des Guten ist konsekutiver Art, nämlich Dankbarkeit.“6

Zu 2) Zugangsweisen ethischer Urteilsbildung

Ein verbreitetes Schema ethischer Urteilsbildung findet sich in der von Tödt in den 70er Jahren entwickelten „Theorie ethischer Urteilsfindung“.7

Stärken: Tödts Verdienst war es, die ethische Diskussion zu strukturieren, die Vorgehensweise zu systematisieren und zu differenzieren, sowie Zusammenhänge zu klären. Ebenso deutet er im letzten seiner „Schritte ethischer Urteilsfindung“ implizit auf den hermeneutischen Prozess hin, den eine ethische Urteilsbildung fortwährend vollzieht: Argumente sowie Entscheidungen müssen immer wieder neu und an der konkreten Situation hinterfragt werden

Probleme: Die Überprüfung der Verhaltens- und Handlungsalternativen auf der Grundlage verschiedener Normen ist extrem komplex – und damit für SuS nur kaum durchführbar. Zum anderen fehlt eine klare Handlungsorientierung, was jedoch gerade für SuS Ende der Mittelstufe und in der Oberstufe von großem Belang ist: Die Anbindung an die Lebenswelt der Jugendlichen ist ein wichtiges Ziel im kompetenzorientierten Unterricht.

Diese Anbindung soll dadurch verstärkt werden, dass das Ergebnis einer ethischen Urteilsbildung sich in ganz konkret umsetzbaren Handlungen im Bereich der Lebenswelt der SuS niederschlägt. Aus diesem Grund wird hier ein Weg vorgestellt, der versucht die Stringenz zu wahren und auf eine praktikable Umsetzung von Problemlösungen zielt.8

Die unten noch darzustellenden entwicklungspsychologischen Voraussetzungen der SuS legen zudem unterschiedliche Zugangsweisen ethischer Urteilsbildung nahe: Eine mögliche Zugangsweise – man könnte sie „induktiv“ nennen - setzt beim Problem an und versucht anhand einer Diskussion verschiedener Ansätze zu einer Lösung zu kommen. Eine andere Zugangsweise verfährt dagegen eher „deduktiv“, indem sie von einer Problemlösung ausgeht und versucht diese argumentativ nachzuvollziehen, zu stützen und ggf. zu modifizieren. Wir schlagen vor, in der Unterstufe eher deduktiv vorzugehen und erst ab der Mittelstufe das induktive Verfahren sukzessive einzuführen.

Kompetenzbezüge

Inhaltsbezogene Kompetenzen:

Damit die inhaltsbezogenen Kompetenzen in Klassenstufe 10 nicht zu einem punktuellen, kurzfristigen Lerngegenstand bei einer ethischen Urteilsbildung werden, müssen diese ebenso wie die prozessbezogenen Kompetenzen vertikal vernetzt werden (siehe tabellarischer Überblick Klasse 5 – 10) und entwicklungspsychologisch abgeglichen werden. Im Zentrum dieser vertikalen Vernetzung steht die „ethische Urteilsbildung“, die sich jedoch in Abgrenzung zu anderen Fächern durch eine regelmäßige Anbindung an biblische sowie theologiegeschichtliche Bezugspunkte unterscheidet.

Prozessbezogene Kompetenzen

In der ethischen Urteilsbildung fließen beinahe alle prozessbezogenen Kompetenzen ein: Die Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeit bei der Problemerfassung und -beschreibung, die Deutungsfähigkeit bei der Überprüfung von Geltungsansprüchen hinsichtlich verschiedener Argumente und Positionen, die Urteilsfähigkeit bei der Bewertung und eigenen Positionsformulierung sowie die Dialogfähigkeit, die sich auch in einer schriftlichen Auseinandersetzung mit möglichen Fragestellungen und Einwänden zeigt.9

Dabei sind bei der ethischen Urteilsbildung folgende Fragen zu unterscheiden:10

  • Worin besteht das zu betrachtende ethische Problem genau?
  • Was ist eine mögliche Antwort auf das Problem?
  • Ist die Antwort tragfähig, sind die Argumente logisch schlüssig?
  • Wie verhalten sich die Argumente zum christlichen Menschenbild?
  • Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Antwort?
  • Was sind mögliche Begründungen für die Antwort?11
  • Auf welchen Annahmen beruhen diese Begründungen?
  • Wie sind diese Begründungen von mir zu bewerten?12
  • Welche Argumentationsstützen bieten philosophische und religiöse Wertesysteme?
  • Welches eigene Urteil ziehe ich aus den Vorüberlegungen und wie begründe ich es?

 

1 Findet das erste stärker in katholischer Moraltheologie, z.B. bei Alfons Auer (vgl. Brüll, H.-M.; Schmid, B.: ethische Urteilsbildung, S. 249-276), so findet der zweite Ansatz in der calvinistischen Tradition und bei Tillich Anklang. Vgl. Graf, F. W.: Theonomie.

2 Brüll, H.-M.; Schmid, B.: ethische Urteilsbildung, S. 248.

3 Integrierend, indem Formen des weltlichen Ethos und der autonomen Vernunft auch als hilfreich für die christliche Existenz herangezogen werden. Kritisierend, da durch den Glaubenshorizont säkuläre ethische Konzeptionen z.B. bezüglich des zugrundeliegenden Menschenbildes hinterfragt werden. Stimulierend, weil durch den Glaubenshorizont auch Fortschritte im sittlichen Bewusstsein und in sozialen Strukturen angeregt werden. Vgl. ebd., S. 260f.

4 So werden heute drei Grundmodelle christlicher Ethik unterschieden: Zwei Subordinationsmodelle, nämlich zum einen die Überordnung der Ethik über die Dogmatik (E. Troeltsch; Kulturprotestantismus) und entgegengesetzt die Unterordnung der Ethik unter eine strikt offenbarungstheologisch begründete Dogmatik (K. Barth). Dazwischen stehen verschiedene Koordinationsmodelle (z. B. F. Schleiermacher), die einen Ausgleich anstreben. Bei diesen dient die Lebenswirklichkeit dem Glauben als Deutungsgegenstand, während zugleich sich die Ethik um die Umsetzung von Impulsen des Glaubens in die Wirklichkeit hinein beschäftigt. Vgl. hierzu Reuter, H.-R.: Grundlagen; S. 22ff. Vgl. hierzu auch Brüll, H.-M.; Schmid, B.: ethische Urteilsbildung, S. 252, 260, 266.

5 Vgl. Härle, W.: Ethik, S. 27f (Layout leicht verändert).

6 Ebd., S. 135.

7 Dabei unterscheidet Tödt sechs Schritte: ProblemfeststellungSituationsanalyseSuche nach Handlungs-/ VerhaltensalternativenPrüfung der NormenUrteilsentscheid — Rückblickende Kontrolle auf Angemessenheit und Stringenz. Vgl. Tödt, H. E.: Theorie ethischer Urteilsfindung, Seite 83.

8 Vgl. hierzu auch die auf Tödt verfasste Antwort und philosophische Weiterführung von Ottfried Höffe: ders.: Theorie sittlicher Urteilsfindung, S. 181-187. Höffe legt gerade auf die konkrete Umsetzung ein besonderes Gewicht. Außerdem sei hier auf den Ansatz von Barbara Bleisch und Markus Huppenbauer verwiesen, der speziell die Gewichtung der Argumente, sowie die konkrete Umsetzbarkeit der Handlungen in einem 3 Stufigen Modell (Fallanalyse – Problemanalyse – Prozess der argumentativen Urteilsfindung) ins Zentrum rückt. Ähnlich verfährt auch ein Schema von Dietmar Mieth (1993), welches Auers Ansatz weiterführt: Bewusstmachen des Vorverständnisses – Kenntnis der einschlägigen Sachverhalte – Prüfung von Sinnorientierung und Werten – Rationalisierung der Alternativen und Abwägen von Prioritäten. Vgl. hierzu Brüll, H.-M.; Schmid, B.: ethische Urteilsbildung, S. 276.

9 Da es dabei auch immer um eine Auseinandersetzung mit und Darstellung von religiös bedeutsamen Inhalten sowie um Verhalten in religiös bedeutsamen Situationen geht, ist letztendlich ebenso die Gestaltungsfähigkeit inkludiert.

10 Dies folgt eng dem Schema von Pfister, J.: Werkzeuge, S. 13.

11 Hierbei sind im Sinne der prozessbezogenen Kompetenz 2.3.1 deskriptive von normativen Aussagen zu unterscheiden.

12 Hier könnte im Anschluss an die inhaltsbezogene Kompetenz 3.2.2 (2), Klasse 7/8, auch der Gewissensbegriff als Überprüfungsinstanz eine Rolle spielen.

 

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