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Einführung

Das Fallbeispiel leitet sich ab aus der Leitperspektive „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“. In der Leitperspektive wird formuliert, dass es angesichts der durch Komplexität und Vielfalt geprägten Gesellschaft für einen konstruktiven Umgang mit dieser Vielfalt notwendig sei, „Respekt sowie die gegenseitige Achtung und Wertschätzung von Verschiedenheit zu fördern.“ Grundlage dafür sei die Menschenwürde sowie das christliche Menschenbild (!).

Didaktisch soll diese Haltung der Achtung und Wertschätzung durch einen Perspektivenwechsel vermittelt werden, der zugleich auch den Blick für die eigene Identität schärfen soll. Es wird auch die Fähigkeit zum interkulturellen und interreligiösen Dialog als Bildungsziel formuliert. Dabei soll der friedliche Umgang mit unterschiedlichen Positionen und Konflikten auch im internationalen Zusammenhang gefördert werden.

Der Bildungsplan gibt hier ein Bildungsziel vor, die Umsetzung soll jedoch in den Fachplänen erfolgen. Entsprechend wird die Leitperspektive dort ausgewiesen. Dass hier dem Fach Religion eine besondere Aufgabe zukommt, liegt auf der Hand.

Toleranz und Akzeptanz, eine Haltung von Achtung und Wertschätzung sind aber nicht einfach über Apelle zu vermitteln. Nicht nur die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, die Gesellschaft insgesamt ist zwei Strömungen ausgesetzt, die starken Einfluss auf die moralische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen nehmen: Zum einen ist es eine postmodern geprägte Haltung, die auf nonkognitivem Weg die Relevanz von moralischen Werten dekonstruiert und in einen Relativismus führt, den Schülerinnen und Schüler oft intuitiv ausdrücken mit Sätzen wie „Darüber kann ich nichts sagen, denn dazu hat jeder seine eigene Meinung.“ Hier verwandelt sich Toleranz in Ignoranz. Um hier echte Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt so zu vermitteln, dass die eigene Identität vor diesem Hintergrund geschärft werden kann, muss hier zunächst einmal die Notwendigkeit einer ethischen Positionierung erfahrbar gemacht werden. Dafür muss nach den ethischen Grenzen der Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt gefragt werden.

Wolfgang Huber formuliert das in seinem Werk zur Ethik als Frage „Wie viel Verschiedenheit halten wir aus?“ 1 Dabei geht es für Huber unter anderem auch darum, dass eine „Indifferenz in Wahrheitsfragen“ eine zentrale Dimension des Menschseins leugne, welche sich durch Wahrheitsfähigkeit auszeichne. Demnach nehme ein solchermaßen indifferent, also relativistisch denkender Mensch sein Gegenüber als Person nicht ernst, wenn er ihm gegenüber „in Wahrheitsfragen gleichgültig“ sei.2

Die Frage Hubers ist aber auch die Verknüpfung zu der zweiten Strömung, der die Jugendlichen ausgesetzt sind: Eine populistische Ablehnung von Vielfalt und Toleranz vor dem Hintergrund von Ängsten, angesichts der Heterogenität unserer Gesellschaft die eigene Identität zu verlieren.

Um Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt zu unterrichten, muss man wohl jenseits von Apellen die Ausgangssituation von Schülerinnen und Schülern ernst nehmen.

Eine Anknüpfungsmöglichkeit im Schulalltag ist die Frage der Kleidung. Über Kleidung wird Identität und Gruppenzugehörigkeit ausgedrückt. Die Grenze von Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt kann an der Kleidung überprüft werden. Wieviel Abweichung von der Norm halte ich aus? Wann ist die Auswahl meiner Kleidungsstücke ethisch relevant? Ist der Normierungsdruck in Kleidungsfragen vielleicht sogar ethisch relevant?

Ethisch relevant wird die Frage der Kleidung sicherlich in dem Moment, wo Kleidung die Würde anderer Menschen oder die eigene Würde herabsetzt bzw. wo sie zum Mittel von Unterdrückung und Intoleranz wird.

Das Fallbeispiel eignet sich besonders für Klassen, die gerne diskutieren und mit schwierigen Texten eher Probleme haben. Die Texte in der Gruppenarbeitsphase sind sehr konkret und erschließen sich auch weniger leistungsstarken Schüler/innen. Umgekehrt ist aber das Rollenspiel eher geeignet für Klassen, die mit offenen Unterrichtssituationen kreativ und in der Sache engagiert umgehen können.

Die Problemeröffnung ist so allgemein angelegt, dass sie eine Konkretisierung provoziert, zugleich aber jedem und jeder einen Einstieg in das Stundenthema abverlangt.

Nach dem Prinzip, dass man zunächst einmal selbst nachdenken sollte, bevor man mit anderen über ein Thema nachdenkt, beginnt die Stunde mit einer Einzelarbeit. Das intuitive Urteil im Hinblick auf die Leitfrage wird am Ende wieder aufgegriffen, um mit dem reflektierten Urteil abgeglichen zu werden. Das an die Positionierung anschließende Unterrichtsgespräch kann so umgesetzt werden, dass die Schüler/innen und Schüler auf der Positionslinie bleiben. Die Lehrkraft begibt sich mitten unter sie und öffnet damit die Gesprächssituation. Es sollte bereits hier versucht werden, die SuS aufeinander zu beziehen und ein Gespräch auf Augenhöhe anzubahnen. Bereits hier kann eine Metareflexion des ersten intuitiven Zugangs sinnvoll sein.

In der ersten Erarbeitungsphase wird neben der Frage der Angemessenheit von Kleidung ein Thema berührt, das höchst sensibel ist: Selbstverständlich haben die SuS die Erfahrung gemacht, dass durch Kleidung die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe signalisiert wird. Angemessen ist Kleidung für SuS zunächst einmal im Hinblick auf ihre Funktion hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Peer Group. Unter Umständen kann hier in Klassen, die ein Vertrauensverhältnis zueinander und zur Lehrkraft entwickelt haben, der Konformitätsdruck, der in diesem Zusammenhang vorhanden ist, angesprochen werden. Da man bei diesem Thema mit einer hohen emotionalen Betroffenheit und auch mit Spannungen innerhalb der Lerngruppe rechnen muss, sollte man hier mit hoher Sensibilität vorgehen.

Durch die drei Bereiche wird ein Spektrum aufgemacht, das zum einen sehr nah an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler angesiedelt ist, zugleich aber auch die Komplexität der Fragestellung in den Blick nimmt. Vor allem sollte nun deutlich werden, inwiefern das Tragen von Kleidungsstücken ethisch relevant sein kann. Um einen Bezug zum Normenbegriff herzustellen, ist immer auch die Rechtslage dargestellt.

Auf die Thematisierung besonders freizügiger Kleidung wurde hier verzichtet, da das Risiko zu groß wäre, dass gerade hier Schülerinnen direkt vom Urteil der Lerngruppe betroffen wären. Anders ausgedrückt: Das Risiko, dass das Thema „freizügige Kleidung“ zu einer Stigmatisierung einzelner SuS führen könnte, wäre hier kontraproduktiv. Dennoch ist dies natürlich ein interessantes Thema und könnte auch im Unterrichtsgespräch aufgegriffen werden. Man sieht an diesen Themen, dass das Thema Kleidung sehr viel enger mit der Lebenswelt der SuS verknüpft ist, als viele Themen z.B. medizinische Ethik. Vielleicht kann auf diese Weise Ethik auch in ihrer alltäglichen Lebensrelevanz verstanden werden. Dass der Unterricht dabei auch Gefahr laufen kann, einzelnen SuS zu nahe zu treten, ist eine Kehrseite dieser Medaille, die der Lehrkraft bewusst sein sollte.

Es ist durchaus vorstellbar, dass bis zur Auswertung der Gruppenarbeit bereits eine Doppelstunde gefüllt ist. In diesem Fall wäre sicherlich die Anforderungssituation ein guter Einstieg in eine zweite Doppelstunde.

Die Anforderungssituation greift nun eines der Themen auf: Die Verschleierung von Frauen im Islam. Eine sachliche Klärung dieses Fallbeispiels ist bereits in der ersten Gruppenarbeitsphase erfolgt. Nun sollen die bereits in den vorhergehenden Stunden erarbeiteten ethischen Modelle auf das Fallbeispiel angewandt werden. Die SuS sollten hier ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass Sie die ethischen Modelle auf der Grundlage der Basistexte zur utilitaristischen, deontologischen und christlichen Ethik auf die Äußerungen beziehen sollen. Die Zuordnung zu den Modellen ist bewusst nicht bei jeder Rolle eindeutig. Hier sind die SuS gezwungen, auf der ethischen Metaebene zu agieren und abzuwägen, weshalb sie eine Position dem einen Modell oder anderen Modell zugeordnet haben. Sollten die SuS hier differenziert argumentieren und sich nicht abschließend entscheiden wollen, ist dies zu begrüßen.

In dem auf der Gruppenarbeit aufbauenden Rollenspiel soll nun handlungsorientiert sichtbar werden, wie aus unterschiedlichen ethischen Perspektiven Argumente zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Die Überprüfung des intuitiven Urteils vom Anfang der Stunde kann als Metareflexion einen Lernzuwachs sichtbar machen.

Hat man sich entschieden, das Rollenspiel in einer eigenen Doppelstunde durchzuführen, könnte noch Zeit sein, die ethischen Positionen durch ein Austauschen der betroffenen Person noch einmal neu zu reflektieren: Gilt das, was ich im Hinblick auf die bekennende Muslima formuliert habe, denn auch für einen bekennenden Neonazi oder einen offen auftretenden Sexisten? Hier werden neu erworbene Positionen und Argumente aus neuer Perspektive neu reflektiert und unter Umständen durch einen erhöhten Differenzierungsgrad geschärft.

 

1 Wolfgang Huber: Ethik. Die Grundfragen des Lebens von der Geburt bis zum Tod, C.H. Beck, München 2015. 217. 214.

2 Ebd. 217.

 

Unterrichtsvorschlag: Herunterladen [docx][49 KB]

 

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