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Kurzprosa in den Klassen 7 und 8

Im folgenden Abschnitt sollen Entwicklungen im Leseverhalten und in den dazu gehörenden Schreibformen deutlich gemacht werden, wie sie der neue Bildungsplan formuliert. Um deutlich zu machen, was sich im Plan angelegt von den Stufen 5/6 nach 7/8 ändert, ist es erforderlich, zunächst die Orientierungsstufe als Ausgangspunkt der Entwicklung in den Blick zu nehmen.

Mit den Textsorten Fabel und Märchen finden sich bereits in den Klassen 5/6 Beispiele der Kurzprosa. Beide Gattungen fordern zur Identifikation des Lesers mit Protagonisten bzw. zum Einnehmen einer wertenden Haltung auf.1 Das Universum, in dem sich das Geschehen jeweils abspielt, ist dabei ein in sich stimmiges, das über gleichbleibende Regeln und Gesetze verfügt. Die böse Stiefmutter im Märchen unterliegt klaren Verhaltenserwartungen. Dass sie plötzlich selbstlos handelte, wäre ein Bruch der Regel. In der Fabel handelt ein Fuchs immer wie ein Fabelfuchs, nie wie ein Esel. Ebenso sind charakterliche Entwicklungen handelnder Personen im Sinne einer persönlichen Reifung nicht vorgesehen. Ausnahmen von dieser Regel im Märchen sind, bei näherem Hinsehen, häufig gar keine. Es handelt sich bei scheinbaren Entwicklungen dann eher um gewachsene Einsichten. Ganz eindeutig ist allerdings der Befund nicht. In der Auseinandersetzung mit Märchen, wie sie im Deutschunterricht der Klassenstufen 5 und 6 stattfindet, werden denn auch die Funktionsprinzipien des Märchens nicht kritisch hinterfragt, der Rahmen der Märchenwelt wird in der Regel zwar beschrieben, aber als gegeben hingenommen. Der vom neuen Bildungsplan geforderte Umgang mit literarischen Texten umfasst allerdings durchaus mehr als bloßes Einfühlen. Sowohl in 5/6 wie in 7/8 ist im Standard 1 unter anderem vom „navigierend<en>“ Lesen die Rede. Das stellt eine wichtige Neuerung dar und bedeutet, dass im gesteuerten Leseprozess etwa Motive oder Aussagen einer Figur verfolgt und beschrieben werden. Im Zusammenhang damit steht der Standard 4, der dazu auffordert, „Textinhalte und Textstrukturen“ zu visualisieren, dies allerdings dann erst in 7/8, da die Anfertigung der angesprochenen nichtlinearen Texte ein höheres Maß an Abstraktion erfordern. Allerdings wirken viele der inhaltsbezogenen Standards in 5/6 bereits recht analytisch, zum Beispiel die Standards 5 und 6, die Textelemente und Fachbegriffe thematisieren. Es geht aber in der gesamten Orientierungsstufe vordringlich um das Kennen und Erkennen, das verwenden und das formulieren. Wenn im Standard 5 dann doch der Begriff „analysieren“ verwendet wird, so ist damit, es geht um Textstrukturen und –elemente, eher ein Erkennen und Beschreiben, allenfalls in Ansätzen ein Charakterisieren gemeint.

Die Lektüre von Jugendbüchern, wie sie in den Klassen fünf und sechs üblich sind, erfordert eine ähnliche Nähe des Lesers zum Geschehen und den handelnden Personen wie im Falle von Märchen, wenngleich das beschriebene Universum einen strengeren Vergleich mit den Realitätserfahrungen der Leser aushalten muss. Hier kann daher sogar ein regelrechtes Einleben in Situation und handelnde Personen stattfinden. Allerdings verhalten sich klassische wie moderne Jugendbücher in der Regel problemorientierter als Märchen. Ihr Handlungskosmos ist alles andere als ideal geordnet. Auch finden Entwicklung und Reifung der Protagonisten durchaus statt. Wichtig ist in Abgrenzung zum späteren Umgang mit literarischen Texten, auch mit Jugendbüchern, dass es der Texterschließung stärker um ein Einfühlen und Verstehen als eine eigentliche Deutung geht.2

In der Klassenstufe 7 tritt als neue Textsorte die Kurzgeschichte hinzu. Sie verlangt vom Leser grundsätzlich mehr als die bereits vertrauten Gattungen, vor allem anderen ein verändertes, distanzierteres Lesen. Dabei ändert sich nicht alles. Das identifikatorische Lesen funktioniert auch weiterhin. Allerdings verlangen konzeptionelle Eigenschaften der Kurzgeschichte einen verstärkt analytischen Zugang, wenn es um die Herstellung eines belastbaren Leseverständnisses und die Beschäftigung mit den zentralen Konflikten geht. Dazu passt der Wechsel der Schreibformen in der gleichen Klassenstufe, weg von der Nacherzählung, hin zur Inhaltsangabe. Aus der Haltung emotionaler Nähe soll die analytisch distanzierte Beobachtung werden.

Zum Wesen der Kurzgeschichte gehört es, dass sie unvermittelt einsetzt und endet. Das geradezu genretypische Einsetzen mit Personalpronomina („Plötzlich wachte sie auf.“), das eine Vorhandlung suggeriert, markiert strukturell gesetzte Leerstellen. Ähnlich wirkt das oft abrupte Ende („Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.“3).

Insgesamt lebt die typische Kurzgeschichte davon, dass sie auf markierte Weise vielfach unvollständig ist und vom Leser deutend vervollständigt werden muss.

Der Weg zum analytischen Lesen wird im späteren Verlauf fortgesetzt mit der sehr anspruchsvollen Textsorte der Parabel. Die letzten Abiturdurchgänge haben in Aufgaben zur Kurzprosa gezeigt, dass hier die Anforderungen auch an leistungsstarke Schülerinnen und Schüler beträchtlich sind. Zusätzlich zu der auch bei Kurzgeschichten erforderlichen Verstehensarbeit tritt hier das Aufdecken der gleichnishaften Bedeutungsebene hinzu.

Dem Wandel der Lesefähigkeit widmet der neue Bildungsplan viel Raum. An zwei Beispielen soll an typischen Texten deutlich gemacht werden, wie der Plan auf die genannten Veränderungen im Leseverhalten reagiert.

Ein sehr gängiger Text für die Klasse fünf ist das Märchen „Die Sterntaler“, während die Kurzgeschichte durch Wolfgang Borcherts „Das Brot“, ebenso gängig in Klasse 7, vertreten wird. Zuvor aber ein Blick auf Formulierungen des Bildungsplans.

„Identifikation wie auch Abgrenzung prägen eigene Lesebiografien“, (BP S.9) heißt es bereits in den Vorbemerkungen zu den inhaltsbezogenen Kompetenzen im Bereich „Literarische Texte“. Mit den beiden Leitbegriffen werden alternative Möglichkeiten, aber auch der große Paradigmenwechsel in der Entwicklung des Lesens benannt. In der Einleitung zur Altersstufe 7/8 konkretisiert sich der Übergang vom identifikatorischen zum analytischen Lesen. Der Vorspann zu 5/6 beschreibt dagegen deutlich das vorabstrakte Lesen. Die besondere Leistung in 7/8 wird dabei erst in der Zusammenschau beider Stufen sichtbar.

Klasse 5/6

Die Schülerinnen und Schüler nähern sich altersgemäßen literarischen Texten und gewinnen einen persönlichen Leseeindruck. Sie verstehen deren wesentliche Inhalte, können Erleben, Handeln und Verhalten literarischer Figuren beschreiben und erweitern ihre Vorstellungskraft.

Klasse 7/8

Die Schülerinnen und Schüler sind in der Lage, wesentliche Inhalte literarischer Texte zusammenhängend und abstrahierend wiederzugeben. Mithilfe von Fachbegriffen können sie die besonderen Ausdrucksformen literarischer Texte beschreiben, Zusammenhänge zwischen Inhalt und Form herstellen und Texte nach Gattungsmerkmalen unterscheiden. Dabei setzen sie sich auch mit der Mehrdeutigkeit literarischer Texte auseinander.

Geht es in den Klassen fünf und sechs noch um das Verstehen und Nacherzählen von Texten, so verlangt der Plan auf 7/8 bereits die Wiedergabe von Inhalten und die Beschreibung von Ausdrucksformen. Das Eingehen auf Strukturen und Formales gerät zunehmend funktional. Eine besondere Leistung liegt darin, dass die Mehrdeutigkeit literarischer Texte in den Blick gefasst wird. Hier PP Kurzgeschichtenende

In der Auflistung der einzelnen inhaltsbezogenen Standards werden die Unterschiede und veränderten Anforderungen an den Umgang mit literarischen Texten noch deutlicher bzw. differenzierter.

Anders stellen sich die prozessbezogenen Standards dar. Hier gibt es ja keine Unterscheidung nach Klassenstufen, Vielmehr sind Kompetenzen betroffen, die im Laufe der Schulzeit mitwachsen. Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang der Bereich Lesen. Dort heißt es: Sie können zwischen unterschiedlichen Lesehaltungen (z.B. identifikatorisch, analytisch, wertend) unterscheiden erklärt der Bildungsplan in den Vorbemerkungen zum Bereich 2.3 Lesen der prozessbezogenen Standards.

Die Fähigkeit, zwischen den verschiedenen Lesehaltungen zu unterscheiden, ist natürlich weder in den Klassen 5/6, noch in den Klassen 7/8 als selbstständige Leistung zu erwarten. Sie ist aber Ziel der Entwicklung und wird durchgängig verfolgt, der Abschnitt „Trivialroman analytisch“ zeigt eine Möglichkeit, die verschiedenen Lesehaltungen in der Kursstufe zu thematisieren. Dies sieht der neue Bildungsplan durchaus vor, verlangt er doch, dass die Schülerinnen und Schüler der Kursstufe in der Lage sind, „Verstehensprozesse zu reflektieren.4 Die kontinuierliche Anforderung an den Unterricht, den analytischen Blick zu entwickeln, zeigt sich deutlich in den prozessbezogenen Kompetenzen. So formuliert der Standard 8 des Bereichs Lesen: Die Schülerinnen und Schüler können Deutungshypothesen entwickeln, diese differenziert begründen, am Text belegen und im Verstehensprozess überarbeiten Das Entwickeln von Deutungshypothesen lässt sich im Sinne der Abituranforderungen als selbstständige analytische Arbeit, die wissenschaftliche Züge tragen kann, verstehen. In der Unterstufe kann ebenso eine inhaltliche Annäherung an die erzählte Handlung aus der Sicht einer handelnden Person gemeint sein. Der prozessbezogene Standard wächst also mit und verknüpft sich mit wechselnden Gegenständen und Anforderungen.

In den Klassenstufen 7 und 8 haben wir es nun mit dem genannten Paradigmenwechsel zwischen identifikatorischem und analytischem Lesen zu tun, der großen Erweiterung des Leseverhaltens. Die neue Anforderung der Inhaltsangabe (zentrale Schreibform in 7/8) erfordert eine Distanznahme, die bisher nicht denkbar bzw. sinnvoll gewesen wäre. Dies äußert sich in den Formulierungen einzelner Standards: Die Schülerinnen und Schüler können

(10) einfache Deutungsansätze entwickeln und formulieren (5/6)

aber

(12) Deutungen eines Textes entwickeln und formulieren und (auch mithilfe von Deutungshypothesen) das eigene Textverständnis erläutern, begründen und am Text belegen. (7/8)

Hier wird der in 7/8 höhere Reflexionsgrad deutlich. Auch verbirgt sich in dem Plural „Deutungen“ die Fähigkeit, ihr eigenes Spontanverständnis als eine Möglichkeit unter mehreren zu verstehen.

Die Schülerinnen und Schüler können weiterhin

(13) ihr Verständnis literarischer Figuren und ihrer Beziehung zueinander formulieren, dabei innere und äußere Merkmale sowie ihr Verhalten beschreiben, begründen und bewerten (5/6),

aber

(16) literarische Figuren charakterisieren (7/8).

Hier wiederum gibt sich 7/8 deutlich karger. 5/6 macht sichtbar, wo die Grenzen der Möglichkeit von Deutung im identifikatorischen Lesen liegen. Das Charakterisieren kann auf dieser Ebene noch nicht gelingen. Es fehlt die dazu nötige Distanznahme.

Bei der Entwicklung der nötigen Distanz helfen auch Verstehenshindernisse. Während in 5/6 noch das „Verstehensschwierigkeiten benennen(14) Teil der Verstehensarbeit ist, sollen die Schülerinnen und Schüler in 7/8 „Verstehensschwierigkeiten benennen und für den Verstehensprozess nutzen“. Aus dem persönlichen Defizit in 5/6 wird Hinweis auf die in 7/8 erstmals thematisierte Mehrdeutigkeit (18) literarischer Texte.


1   Eine weitere Textsorte, die Identifikation des Lesers als Voraussetzung ihrer Wirkung hat, ist die Gruselgeschichte, die in Klasse sechs etabliert ist.

2   Als Beispiel für den Umgang mit Literatur in der fünften Klasse sei auf das Arbeitsblatt „Sternthaler“ verwiesen.

3   Beide Zitate aus Wolfgang Borchert: „Das Brot“.

4   Bildungsplan 2016, S.59.

 

Beispiel

Wandel der Schreibformen

Inhaltsangabe

Sprachreflexion

Fazit

 

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