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Themen und Motive

Das Schiff Esperanza, nach Meinung einiger Rezipienten das erfolgreichste Werk der deutschen Hörspielgeschichte, ist häufig vor allem wegen der Fabel bewundert worden, der es gelingt, mit wenigen Personen und geringem Aufwand sehr Grundsätzliches eindringlich zur Sprache zu bringen. Tatsächlich ist nicht zuletzt die fast veränderungsfreie Übernahme der Grundidee in einen „Tatort“-Krimi im Jahr 2001 jüngerer Beleg für die ungebrochene Attraktivität des Stoffes und seine Verwendbarkeit in anderen Kunstformen. Das Hörspiel thematisiert zeitlose Probleme in einer Zugänglichkeit, die es gerade für die schulische Verwendung ausgesprochen geeignet macht.

Ein deutlich zu erkennendes Zentrum des Schiffes Esperanza ist die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn, die über den individuellen Fall hinaus exemplarische Züge von Generationenkonflikten trägt. Zunächst stehen auf beiden Seiten überkommene Vorstellungen und Idealbilder vom Anderen einer realistischen Wahrnehmung im Wege. Axels Kindheitserinnerung an den Seehelden in strahlender Uniform zerbricht allerdings angesichts des heruntergekommenen Säufers auf einem maroden Schiff schneller als der Wunsch des Vaters, im Sohn ein unbeschädigtes jüngeres Selbst, einen Person gewordenen zweiten Versuch eines geglückten Lebens zu sehen. Aber auch diese Projektion kann sich gegen die Wirklichkeit nicht behaupten, als sich Axel als resistent gegen ehrgeizige Pläne zeigt. Er, der nur Krieg und Nachkriegselend, durchweg aus der Perspektive der Opfer, kennen gelernt hat, wäre mit einem kleinen, bescheidenen Leben durchaus zufrieden. Grove bezeichnet ihn daher nicht ohne Grund als „ein bisschen kümmerlich geblieben“(40) 1. So finden sich die beiden Protagonisten des Hörspiels gegenseitig kleiner, als es ihren Wunschbildern entspräche. Während Axel sich in globale Ablehnung zurückzieht und sich auf seinen realen Vater nicht mehr einlassen kann, überwindet jener zumindest zeitweise seine Enttäuschung über einen Sohn, der so gar nicht zur Verwirklichung der väterlichen Lebensziele taugt.

Das Phänomen der Kleinheit durchzieht, gebunden an die Frage nach dem persönlichen Lebensentwurf, als zweites großes Thema das ganze Werk, bis in die Nebengestalten. Die Auswanderer sind Flüchtlinge vor dem Gesetz, aber eben auch ein wenig „kümmerlich“. „Arme Schweine“(36) werden sie genannt, weil es ihren Vergehen wie ihrem Leben an Entwicklungsmöglichkeiten und Größe mangelt. Als beispielhaftes Schicksal wird das des Kassierers Megerlin näher ausgeführt, eines der Flüchtlinge, der nach eigenen Angaben „ein Leben lang nichts erlebt“(24) hat und nur deshalb in die Kasse der eigenen Bank gegriffen hat. Die Zeitungen haben über den Diebstahl nicht einmal berichtet, und die Beute ist beim Kartenspiel im untersten Laderaum der Esperanza schnell verloren. Am Ende reicht Megerlins Entschlossenheit nicht einmal zum Verlassen des Schiffes aus, was ihn, den Ängstlichsten, zum einzigen Überlebenden der Gruppe macht. Axel und Edna, das junge Paar im Werk, das an manchen Stellen der deprimierenden Atmosphäre etwas Positives beizumischen scheint, setzt den gewissenlosen Seeleuten zwar moralische Integrität, kaum aber eine Idee oder einen Lebensentwurf entgegen. Die Frage nach dem geglückten oder gelungenen Leben wird am Ende nicht einmal gestellt und ist doch durchgehend eines der großen Themen des Hörspiels. Dingsymbol für die verlorene Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft ist das Schiff selbst. Die Esperanza heißt nicht umsonst „Hoffnung“ und ist nicht umsonst so heruntergekommen, dass nur Verzweifelte, eigentlich Hoffnungslose, ihr vertrauen.

Das dritte durchgängig thematisierte Thema ist die Frage nach der Schuld. Denn nahezu jeder, der in dem Hörspiel zu Wort kommt, ist mehr oder weniger stark in Schuld verstrickt und äußert sich auch dazu. Dabei reicht die Bandbreite der Reaktionsweisen von der vollständigen Unempfindlichkeit gegen Gewissensregungen, wie bei den Seeleuten Bengtsen und Krucha, über gelegentliche schlechte Träume wie im Falle Podbiaks bis hin zu Axels Weigerung, mit dem Leben seines Vaters, von dem er noch nicht einmal alles weiß, überhaupt zu tun zu haben. Podbiak selbst übrigens wird keineswegs von seinem Gewissen verfolgt, er ängstigt sich vielmehr zunehmend, dass sich eines Tages die Flüchtlinge in der Barkasse wehren könnten. Kapitän Grove selbst macht als einer von wenigen im Verlauf der Handlung eine innere Entwicklung durch, die ihn zwar zur unwahrscheinlichen Rettung Axels das Schiff wenden lässt, aber kaum Nachhaltigkeit im Verhalten erwarten lässt. Immerhin verwendet er bis zum Ende des Hörspiels keinen Gedanken an die sechs anderen Ausgesetzten. Die zweite Gestalt mit zumindest denkbarer Entwicklung ist der Kassierer Megerlin. Seine Entscheidung, sich den Behörden zu stellen, erscheint zunächst als Hinweis auf eine Reifung und ein erwachtes Gewissen. Den Ausschlag gibt jedoch im entscheidenden Moment die Angst vor einem neuen Leben in einem fremden Land. Aus Angst verliert er sein Geld im Kartenspiel und versucht sich kurz vor der vermeintlichen Ankunft zu erhängen. Seine Euphorie am Ende des Hörspiels, während er auf dem Deck sitzt, ist denn auch mit Misstrauen zu betrachten und die von ihm vage verspürte „andere, herrliche riesige Welt“(62) ist unklar und gestaltlos genug, um Zweifel an der Haltbarkeit der Glücksgefühle zuzulassen. Den Behörden will er sich nicht aus Gewissensgründen ausliefern lassen, sondern, um sein Leben in die Planbarkeit zurück zu führen. Auch die Personen, die durch fast explizite Abwesenheit von Gewissen auffallen, wie Bengtsen und Kucha, tragen zum Spektrum des Umgangs mit Schuld bei, ebenso wie Axel, dessen Ablehnung seines Vaters und seiner Machenschaften tatsächlich ethisch begründet ist und der von den eigentlichen Verbrechen nicht weiß. Als positive Identifikationsfigur taugt freilich auch er nicht, nicht so sehr moralischer Schwächen wegen als vielmehr wegen seiner allgemeinen Orientierungslosigkeit.


1   Zahlen in runden Klammern beziehen sich auf die Paginierung der Ausgabe RUB 8762

 

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