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Deutung durch Vortrag

Es geht bei dem Schritt des eigenständig erarbeiteten Vortrags im Wesentlichen um die Bewusstmachung einer bereits bestehenden Vorstellung von der Bedeutung des Textabschnittes. Diese bestimmt den Vortrag. Damit die in Einzelarbeit entstehenden Gestaltungen überhaupt eine sinnlich erfahrbare Deutung transportieren, musste zu Beginn der Arbeit am Text mit einzelnen praktischen Übungen die Nutzung der Stimme als Gestaltungsinstrument vorbereitet werden. 1 Dann erfolgte der Arbeitsauftrag, die zweite Strophe des „Erlkönigs“ so im Vortrag zu gestalten, „wie sie sich anhören muss“ 2.

Die zweite Strophe des Erlkönigs lautet:

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –

Für diese Strophe sollte in Einzelarbeit ein Vortrag gestaltet werden. Dafür wurden Markierungszeichen aus der Textblattmethode eingeführt, die nötig sind, um den Vortrag als einen geplanten Zugriff auf die Ballade zu einer belastbaren Dokumentation des sich entwickelnden Textverständnisses zu nutzen. Auffallend an den Rückmeldungen der Mitschüler zu einzelnen Vorträgen war, dass von Anfang an Übereinstimmung mit dem eigenen Textverständnis gelobt und bei Abweichung um Erklärung gebeten wurde.

Deutung des Vortrags

Die Erarbeitung eines Textvortrags hatte zum erklärten Ziel, den eher subjektiven Zugriff auf den Text durch den geplanten Vortrag zum Mittel der Deutung zu machen, welches zunächst noch vollständig ästhetischem Empfinden folgen durfte. In einem nächsten Schritt ging es darum, Gestaltungsentscheidungen zu begründen. Dabei konnten sowohl eigene Entscheidungen erklärt, als auch fremde Vorträge plausibel gemacht werden. Ziel war nicht so sehr, eine Textdeutung zu unternehmen, als einen spezifischen Vortrag als Niederschlag des je persönlichen Textverständnisses zu beschreiben und eventuell die eigene Sichtweise davon abzugrenzen. Hier zeigt sich eine methodische Nähe des Verfahrens zu szenischen Gestaltungen, die als Vorbereitung einer Interpretation genutzt werden. Im Material 1 findet sich eine Schülerarbeit, die im Rahmen einer Hausaufgabe genau dies unternommen hat. Weiterhin fiel auf, dass häufig in den Hausaufgaben, wie auch im Unterrichtsgespräch, betont wurde, dass eine Gestaltungsentscheidung zwar bewusst getroffen, nicht aber argumentativ abgesichert war.

Deutung eines Vortrags im Klassengespräch, Konzentration auf ein Textdetail

Ein Schülervortrag fiel durch die konsequente Betonung der Reimwörter „Schweif“ und „Nebelstreif“ auf, die aber, weil von verschiedenen Rollen, auch mit unterschiedlicher Klangfarbe gestaltet wurden. Im vertiefenden Gespräch wurde „das, was der Sohn sieht“, von der Sichtweise des Vaters abgegrenzt, wobei klar formuliert wurde, dass die Reimwörter „Schweif“ und „Nebelstreif“ dieselbe Sache bezeichneten, die Unterschiede sich aus der je unterschiedlichen Wahrnehmung ergäben. Dieser Moment im Unterricht ist für den Unterrichtsversuch sehr wertvoll. Die unterschiedliche Klangfarbe der Reimwörter folgte noch ganz individuellem Empfinden, ebenso die Entscheidung, beide Wörter durch Betonung hervorzuheben. Im Hintergrund steht der Eindruck, dass sich in den genannten Reimwörtern das manifestiert, was Vater und Sohn voneinander trennt, die je persönlich gefasste Weltsicht. Aus der Gestaltungentscheidung aus dem Gefühl heraus wurde nun, im Laufe des Gesprächs in der Klasse, eine doppelte intellektuelle Erkenntnis. Zum einen wurde die Identität von „Schweif“ und „Nebelstreif“ in der Objektwelt sichtbar. Außerdem wurde der Reim als mögliche Markierung inhaltlicher Zusammengehörigkeit dingfest gemacht.

In der Folge wurde die Ballade insgesamt nach weiteren Beispielen für eine inhaltliche Markierung durch den Reim durchsucht. Diese Suche hatte unter anderem die Funktion deutlich zu machen, dass nicht hinter jedem Reim eine Form-Inhalt-Entsprechung steckt. Die entdeckte Verbindung zwischen Gehalt und Gestaltung musste sinnvollerweise auf die Möglichkeit, im Gegensatz zur Gesetzmäßigkeit, eingeschränkt werden. Die Schüler erwiesen sich als unerwartet findig bei der Suche nach bedeutungstragenden Reimpaaren, aber auch als argumentationsstark im Verteidigen ihrer Fundstücke. Schnell war man sich einig, dass „Arm“ und „warm“ in der ersten Strophe miteinander zu tun hätten, „Wind“ und „Kind“ aber nicht. Längere Diskussionen entstanden im Zusammenhang mit „mir“ und „dir“. Hier fanden sich Verteidiger und Kritiker der inhaltlichen Verbindung. Die bedrohliche Entsprechung zwischen „schöne Gestalt“ und „Gewalt“ wurde allerdings nicht angesprochen. Auch wurden nicht alle aufgefundenen Entsprechungen auf verschiedene Wahrnehmungen gleicher Objekte zurückgeführt.

Sammlung von Erkenntnissen in Schülerformulierungen

In einem so wenig wie möglich gesteuerten Unterrichtsgespräch wurden nach verschiedenen Gestaltungen und Untersuchungen Ergebnisse formuliert. Diese wurden von Schülern angeboten, von Schülern korrigiert oder verfeinert und schließlich auch von Schülern allen Anwesenden diktiert. Es handelt sich bei den nachfolgend wiedergegebenen Ergebnisformulierungen also um Schülerleistungen, soweit das möglich ist. Die hier trotz Bemühen um methodische Sorgfalt nötige Einschränkung ist nicht auf Zweifel an den Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler zurückzuführen. Im Gegenteil war das Ausmaß an Klarsichtigkeit und Genauigkeit, das im Gespräch zutage trat, beeindruckend. Skepsis ist jedoch überall da angebracht, wo der anwesende Lehrer meint, keinen Einfluss auf das Geschehen im Klassenzimmer genommen zu haben, so also auch hier.


1   Stimm- und Gestaltungsübungen sind auch von Ungeübten ausgesprochen einfach durchzuführen.

2   Dies der Wortlaut der Arbeitsanweisung. Es ist wichtig, dass mit der Selbstverständlichkeit des „richtigen“ Klanges gearbeitet wird.

 

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