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Fiktionalität 1 Anhaltpunkte BP 2016

Fiktionalität ist im Umgang mit Literatur bisher immer stillschweigendes Element des Unterrichts gewesen, da generell gilt, dass die SuS lernen, dass Texte wie Märchen und Sagen oder Phantastik Welten eigenen Rechts darstellen, die nicht in die Alltagswelt übertragbar sind. Die in Kl.8 behandelten Jugendbücher suchen häufig zwar die Annäherung an die Erfahrungswelt der Jugendlichen, aber auch hier wird bereits die Distanz zwischen Text und alltäglicher Lebenswelt eingeübt bzw. thematisierbar, weil in der Literatur Probleme pointiert fokussiert und in eine eigendynamische Handlungsstruktur eingepasst dargestellt werden, so dass neben Empathie und Vergleichbarkeit Elemente der Andersartigkeit und Distanz vorzufinden sind, schon allein dadurch, weil nicht die eigene Biografie der Schülerin/ des Schülers, sondern das Schicksal von Figuren verhandelt wird, die nicht unbedingt real existent (gewesen) sein müssen. Ferner soll der Umgang mit literarischen Fiktionen u.a. dazu beitragen, reflexiv über Situationen und Entwicklungen von Figuren nachzudenken und diese ggf. auch kritisch zu hinterfragen. Dementsprechend gilt, was die folgenden Leitgedanken der Bildungsplans 2016 formulieren und was man gemeinhin als Probehandeln mit Hilfe von Literatur und Kennenlernen von möglichen Identitätsentwürfen bzw. Lebens- und Handlungsalternativen bis hin zu phantastischen Welten und Dystopien nennen kann.

Leitgedanken (BP 2016, S.3, Hervorhebungen nicht im Original)

Sprache ist ein Schlüssel zur Welt. Sie eröffnet vielfältige Zugänge zur Wirklichkeit genauso wie zu personalen und sozialen Denk- und Handlungsmustern und ist unverzichtbar für die Klärung der Beziehung zwischen Individuum und Außenwelt. Die Ausbildung von Identität wie auch die Integration in komplexe soziale Zusammenhänge sind untrennbar verknüpft mit kontinuierlicher Reflexion über Sprache (…). In Sprache gefasst lässt sich das Schöne, aber auch das Schreckliche der Welt erfahren und deuten. Die Ausbildung ästhetischer Kompetenz ist eine Grundlage des Individuationsprozesses und ermöglicht die Entwicklung von Fantasie. (…) Der Literaturunterricht gibt zudem vielfältige Gelegenheit, in der Vermittlung durch Literatur die Problemlagen vergangener wie moderner Gesellschaften zu verstehen und kritisch zu hinterfragen. (…) Durch die Begegnung mit unbekannten sowie fiktionalen Welten und fremden Sprach- und Denkmustern, die zu einer Auseinandersetzung mit Vertrautem und Fremdem anregen, fördert der Deutschunterricht Sensibilität und Empathie und unterstützt den interkulturellen Dialog. Nicht zuletzt besteht seine wesentliche Zielsetzung darin, Freude an der deutschen Sprache und dem Nachdenken darüber, am Lesen und an der ästhetischen Wahrnehmung zu wecken.

Anhand der Leitgedanken stellt sich die Frage nach der Leistung bzw. dem Nutzen fiktionaler Literatur. Der Bildungsplan sieht ihn zum einen in der Erweiterung der Identitätsfindung durch die Konfrontation mit weiteren Identitätsentwürfen, etwa durch die Auseinandersetzung mit fiktionalen Figuren und deren sozialen Rollen, Handlungen, Beziehungen und Konflikte und der sie umgebenden dargestellten Gesellschaft (vgl. die Methode der Charakterisierung einer Figur und der Figurenkonstellation oder die Raumsymbolik), wobei sowohl Empathie als auch Kritik wichtig sind.

Wenn man die verschiedenen Formen der Annäherung an fiktionale Figuren als Bezugspunkt jugendlicher Identitätsentwürfe in Rechnung stellt, so ergeben sich folgende zwei Grundtendenzen, die der oben genannten Darstellung von „Schönem“ und „Schrecklichem“ als fiktional gestützte Erfahrungshorizonte entsprechen:

  1. Die Figur als Gegenstand der Empathie der Leser, also als idealisierbarer „Held“ (bzw. Heldin), den/die man sich in seinem Identitätsentwurf zum Vorbild nehmen kann
    → eher affirmatives Lesen, das wenig Raum für Kritik lässt und eher mit der Figur „mitfiebert“ und ein „Happy End“ erwartet.

Die Hauptfiguren aus den Märchen und Sagen folgen gemeinhin diesem Muster, ebenso vielfach die Figuren aus Fantasy (vgl. Harry Potter), Detektivgeschichten (vgl. Sherlock Holmes), Abenteuergeschichten (vgl. Huckleberry Finn und Tom Sawyer) oder vielen Jugendbüchern (vgl. Katniss Everdeen aus „Die Tribute von Panem“).

  1. Die Figur als Gegenstand kritischer Distanzierung, z.B. als brüchiger Held oder gar Antiheld mit Schattenseiten, die einer Idealisierung als Vorbild widersprechen, weswegen die Figur nicht unbedingt Teil von identitätsstiftenden Prozessen jugendlicher Leser wird.
    → eher kritisch-distanziertes Lesen

Hauptfiguren, die wie Grenouille aus „Das Parfum“ nach diesem Muster funktionieren, werfen zudem die Frage auf, warum man den Text überhaupt liest, wenn die Figur hässlich ist, unsympathische Züge hat und Empathie verhindert. Das (ästhetische) Lesevergnügen ergibt sich dann eher aus der Suche nach ironischen, parodistischen und (sozial-) kritischen Elementen in der Textvorlage, die einerseits unterhaltsam sind, andererseits Reflexionen anregen.

Die basale ästhetische Erfahrung ergibt sich in erster Linie aus dem Sich-Einlassen auf die fiktionale Welt, die in der Fiktionalitätstheorie durch Ideen wie Fiktionalität als eine „Als-Ob-Welt“, die durch eine Art Pakt mit dem Leser von diesem beim Akt des Lesens als unhinterfragt gegeben und daher in der Fantasie der Leser als miterlebbar akzeptiert wird ((willing) suspension of disbelief). Unter anderem durch sogenannte Leerstellen des Textes (im Sinne Wolfgang Isers) werden fiktionale Texte zudem nutzbar als Projektionsflächen der Fantasie, als Vorlagen für eigene Imaginationen und eigenes Erleben. Neuere Fiktionalitätstheorien sprechen hier auch von „Make Believe“, wobei v.a. realistische Darstellungsverfahren und Einblicke in die Figuren diese Annäherungen der Leser an die fiktionale, erzählte Welt begünstigen.

In diesem Sinne kann man diskutieren, ob fiktionale, ästhetisch gestaltete Welten ein menschliches Grundbedürfnis befriedigen, indem man aus der „profanen“ Alltagsrealität entflieht und ideale, erbauliche bzw. unterhaltsame Welten kreiert, also die Möglichkeit zur Weltflucht hat (siehe die Funktion von positiven Helden und „Happy End“).

Dennoch gehören neben Idealem und Schönem auch Herausforderungen, Kämpfe und Krisen mit dazu, um Spannung zu erzeugen (Abenteuer-Effekte), wie schon die Märchen und Sagen zeigen. Hier ergibt sich eine erweiterte Sicht auf die Leistung der Fiktionalität, denn sie macht Welten nicht nur miterlebbar, sondern auch darauf aufbauend kritisierbar, wie z.B. Texte wie „David Copperfield“ oder „Die Tribute von Panem“ zeigen, indem sie sympathische Figuren in eine widrige, kritikwürdige Welt setzen und somit Sozialkritik provozieren.

Diese basale ästhetische Erfahrung wird bereits ab Kl.5/6 ergänzt durch eine reflexive und analytische ästhetische Erfahrung, die daraus entsteht, das „Gemacht sein“ und die Machart von Fiktionen zu untersuchen. Diese wird in den folgenden Klassenstufen zunehmend ausgebaut und reflektiert, die Progression im Sinne eines Spiralcurriculums ergibt sich dabei durch den Schwierigkeitsgrad der Inhalte und Texte sowie durch die Entwicklung der Abstraktions- und Reflexionsfähigkeiten der SchülerInnen (SuS). Es geht darum, Machart (samt technisch-gestalterischen Handgriffen der Autoren) und Leserlenkung in einen Zusammenhang zu bringen, um nicht nur zu sehen, wie ein Text auf Leser wirkt, sondern auch zu hinterfragen, warum das so ist. Diese Form der ästhetischen Erfahrung befähigt zur dritten Stufe, der produktiven ästhetischen Erfahrung, in denen die SuS selbst kreativ tätig werden und gestaltend Macharten/ Gestaltungsmuster ausprobieren und ggf. experimentell variieren können. Daher erscheint es sinnvoll, den bereits weiter entwickelten SuS in Kl. 9 und 10 zuzumuten, dass analytische und interpretatorische Verfahren mit Hilfe von Deutungshypothesen systematisiert werden. Eine exemplarische Aufschlüsselung dessen, wie Fiktionalität funktioniert, welche unterschiedlichen Formen sie hat und was sie bezwecken will, ist aus diesem Grunde eine folgerichtige, professionalisierte Auseinandersetzung mit Texten in Vorbereitung auf die Kursstufe.

Insgesamt ist die (reflexive und analytische) Auseinandersetzung mit Fiktionalität v.a. durch die nachfolgenden Kompetenzen gewährleistet – die auf Fiktionalität konkret bezogenen Kompetenzen sind besonders hervorgehoben. Die hier nicht extra aufgeführten Kompetenzen der Analyse, Interpretation und Hypothesenbildung gelten als ergänzende Basis (vgl. Beispielcurriculum Kl.9/10).

1. Prozessbezogenen Kompetenzen (pbK), (BP 2016, ab S.14), v.a.:

Texte verstehen

5. zwischen textinternen und textexternen Informationen sowie intertextuellen Bedeutungszusammenhängen unterscheiden; literarisches Vorwissen, Kontextwissen, fachliches Wissen, Weltwissen und persönliche Leseerfahrungen reflektiert einsetzen

13. Fremdheitserfahrungen in Texten unter Einbezug geistes-, kultur- und sozialgeschichtlicher

Entwicklungen reflektieren

14. die ästhetische Qualität eines Textes erfassen und ihn als gestaltetes Produkt begreifen

15. die Zuordnung von Texten zu Textformen und Textsorten reflektieren

16. Mehrdeutigkeit als konstitutives Merkmal literarischer Texte erkennen und nachweisen und alternative Lesarten bei ihren Verstehensentwürfen berücksichtigen

Texte analysieren und interpretieren

Textverstehen reflektieren

29. das Verhältnis von Wirklichkeit, Fiktionalität und Virtualität reflektieren

 

2. Inhaltliche Kompetenzen (ibK) in den Klassen 9/10 - Texte und andere Medien - Literarische Texte (BP 2016, ab S.51):

Texte analysieren

5. Textanalyse und Interpretation unterscheiden; die Begriffe Fiktionalität, Text, Intertextualität,

Textanalyse und Interpretation erläutern und bei der eigenen Textanalyse verwenden

6. Fiktionalität erkennen und in ihrer jeweiligen Erscheinungsform reflektieren

Texte kontextualisieren und werten

16. eigene und fremde Lebenswelten beschreiben, differenziert vergleichen und bewerten

(Alterität)

 

3. Leitperspektiven (LP) (BP 2016, ab S.3), v.a.:

  • Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) → z.B. Werteerziehung im Sinne der demokratischen Werte wie Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit (Schuldfrage/ Verantwortung)

  • Bildung für Toleranz und Vielfalt (BTV) → Konfrontation mit dem Anderen und seinen Lebensentwürfen, Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und Werteerziehung in Bezug auf Toleranz und Vielfalt

  • Prävention und Gesundheitsförderung (PG) → Einnahme und Nachvollzug fremder Perspektiven, Beurteilung von Interaktions- und Kommunikationsformen

  • Medienbildung (MB) → Vermittlungsleistung und ästhetische Gestaltung von literarischem Werk und Verfilmung im Vergleich

  • Verbraucherbildung (VB) → vor allem die Formen des ästhetischen Gemacht-Seins, seine Funktionen, Leistungen und Wirkungen anhand eines fiktionalen Textes erkennen

 

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