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5. Sequenz: Beurteilung von Grenouilles „Heldenweg“ - „Die Moral von der Geschicht‘“

Die abschließende Sequenz der UE hat zum Ziel, die Intention bzw. Wirkung des gesamten Romans und seines Protagonisten zu diskutieren.

Der Einstieg mit Hilfe des Lavater-Bilds stellt die Frage nach der Entwicklung Grenouilles neu und ermöglicht zudem die Diskussion zwischen dem Fremdbild als „Frosch“ bzw. Monster und seinem Selbstbild als „Gott“. Nach dem Maßstab der Heldengeschichte und des Entwicklungsromans ist er ein gescheiterter Antiheld, den der auktoriale Erzähler parteiisch entlarvt, während die anderen Figuren nur durch ihr „tödliches Schicksal“ indirekt kritisiert werden.

Dementsprechend zeigt der Roman, dass im Grunde alle Figuren egoistisch und inhuman dargestellt werden, wir also keine aufgeklärte Gesellschaft haben, sondern das, was z.B. bei Hobbes als „der Mensch ist des Menschen Wolf“ beschrieben wird. Eine solche Gesellschaft ist inhuman und fern von Demokratie und Rechtsstaat, da man die Frage nach der Verantwortlichkeit stellen muss.

Das Gerichtsspiel (AB 12) greift die Frage nach Schuld und Verantwortung auf, indem die SuS Argumente zur Verteidigung und Anklage Grenouilles finden müssen. Sie sind genötigt, zwischen den widrigen sozialen Umständen („schlimme Kindheit“, Ausbeutung) und Grenouilles notorischer Bösartigkeit im Roman zu differenzieren und festzustellen, dass er eigentlich keine mildernden Umstände verdient, sondern ein narzisstischer Serien-Killer ist (siehe auch Hinrichtungsszene im Roman).

Der anschließende Vergleich mit dem Film zeigt, dass hier das Mirabellenmädchen als Symbol der Sehnsucht nach Liebe fungiert und musikalisch wie auch bildlich als Motiv bei der zur Orgie mutierten Hinrichtung in Grasse Grenouilles Sehnsucht nach Erlösung motiviert –

wodurch das Glück, dass er mit seinem Tod auslöst, einen neuen Sinn macht, während er im Roman von Hass motiviert nur seine eigene Vernichtung anstrebt und das Glück, das sein Tod auslöst ironisch, weil nicht intendiert ist. Das Mädchen stirbt zudem im Film nicht durch Mord, sondern durch einen nicht beabsichtigten Unfall, ist also eher als Totschlag zu werten. Das macht die Figur sympathischer und nachvollziehbarer als im Roman, bekäme also mildernde Umstände zugebilligt. Zudem wird Grenouille im Film durch Kleidung und Aussehen immer menschlicher. Stärker als im Film hebt der Roman seine unreflektierte, trieb- und instinktgesteuerte Art hervor, zumal auf S.317 betont wird, dass Denken nicht seine Stärke sei. Damit würde vor Gericht zur Debatte stehen, dass er aufgrund seiner intellektuellen Eingeschränktheit – die sich auch im Garten des Waisenhauses S.33f. zeigt – nicht zurechnungsfähig sein könnte.

Der Exkurs soll den SuS verdeutlichen, dass selbst die einzige mögliche Gegenfigur Richis nicht die Kriterien des aufgeklärten moralischen Menschen und auch nicht des erfolgreichen Detektivs erfüllt. Letzteres zeigt zudem die Parodie des Detektivromans, was anhand des Vergleichs mit dem Poe-Text zur „ratiocination“ im Vergleich zu den Auszügen aus dem Roman gezeigt werden kann: Richis ist eher unsystematisch und intuitiv, kann vor allem Grenouille nicht überführen, ist anfällig für Manipulation und hegt unangemessene Gefühle für seine Tochter, die nahe am Inzest sind.

Die abschließende Diskussion soll die SuS zur Reflexion über philosophische und gesellschaftskritische Aspekte des Romans anregen, da der Roman antiidealistische und antiaufklärerische Figuren und Handlungsorte darstellt. Der Roman zeigt mehr als der Film die andersartige Welt des 18.Jahrhunderts an der Schwelle zur Aufklärung, ohne Gerechtigkeit und Moral, also ohne Rechtsstaatlichkeit und Humanität (vgl. den Umgang mit Waisenkindern, die auch durch Quellen belegbar ist, siehe Schulbuchmaterialien). Letztere ist nicht möglich, wenn die Figuren weder über Selbstreflexion und Einsicht noch über Intellekt und Moral verfügen. Damit ist diskutierbar, ob eine Gesellschaft ihre Mitglieder „determiniert“. In diesem Sinne sind auch die Geschlechterrollen zu sehen, indem die meisten Frauen die Opferrolle einnehmen (siehe Grenouilles Mutter und die Mordopfer, aber als Gegenentwurf gilt hier Madame Gaillard). Grenouilles Begabung entspricht im Kern zwar den Fähigkeiten heutiger Meisterparfümeure, aber sie überschreitet sie in ihrer Perfektion, zudem sind seine Geruchlosigkeit und seine extreme Resistenz unrealistisch, also phantastisch-wunderbar.

Der Bezug zur Hausaufgabe ergibt sich gerade hier in der Besonderheit des Protagonisten als extreme Abweichung vom Erwartbaren und damit als Neuigkeit, die die Basis des Bestsellerkults um den Roman gelegt hat.

Die Leistung von Fiktionen lässt sich an diesem Extrem nochmals mit den SuS thematisieren, da der Text mehrfach lesbar ist – als gebildeter Expertenleser, der intertextuelle und philosophische Aspekte entdeckt und als unterhaltungswilliger Leser, der den Roman als Mischung von historischem Roman, Verbrechergeschichte und Detektivgeschichte liest.

Die Hausaufgabe soll den Bezug zu anderen Heldengeschichten eröffnen – z.B. zu „Der kleine Hobbit“, „Harry Potter“, „Der Herr der Ringe“ und „Lied von Eis und Feuer“/ „A Game of Thrones“, um zu zeigen, dass Heldenfiguren nicht mehr nur Heilsbringer und Retter sind, sondern auch Schwächen und Rückschläge thematisiert werden, die sie interessanter und realistischer gegenüber der Erfahrungswelt der Leser machen.

 

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