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Theoretische Einsichten

Infobox

Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.

Was ist nun die wissenschaftliche Erkenntnis ? Zunächst ist interessant, dass man die Unterschiede zwischen den vier Klassen, insbesondere auch zwischen C und D, mit bestimmten Dimensionen von Unterrichtsqualität beschreiben kann, die wir in der Forschung durch Skalen und Beobachtungsratings erfassen. Und zu diesen wichtigen Merkmalen gehört das Vorkommen kooperativer Arbeitsformen eben nicht. Das ist eine allgemeine Erkenntnis der Unterrichtsforschung, die zurückgeht auf den alten Diskurs über das Verhältnis von Didaktik und Methodik. Es sind nicht die Unterrichtsmethoden, es sind nicht die Sozialformen, die den Unterschied zwischen gutem und schlechtem Unterricht ausmachen.

Deshalb irritiert es mich zutiefst, wenn ich von Lehrkräften höre – nicht aus Baden-Württemberg, sondern aus einem anderen Bundesland –, dass die Schulinspektion in den Unterricht kommt und darauf achtet, dass etwa gleich viel Zeit für Unterrichtsgespräch, Einzelarbeit und Gruppenarbeit aufgewandt wird. Dies ist Unsinn, weil man die Häufigkeit oder die Verteilung von Sozialformen zum Kriterium von Unterrichtsqualität macht. Natürlich ist es wichtig, dass man mit den Arbeitsformen variiert, insbesondere um bei den Schülerinnen und Schülern die Aufmerksamkeit zu erhalten, sie zu motivieren. Das ist ein altes didaktisches Prinzip. Aber die Frage: „Was bringt hinterher die Lernqualität, die Verstehensleistung?“ hat damit zunächst mal nichts zu tun, sondern da kommt es auf die Tiefenmerkmale an.

Dabei handelt es sich um zwei klassische Tiefenmerkmale , die die insgesamt erfolgreicheren Klassen C und D von A und B unterscheiden:

Das ist zum einen die Effizienz der Klassenführung , d. h.: Wird schnell mit dem Thema begonnen? Werden Störungen vermieden? Wird auf Störungen schnell reagiert? Ist der Unterricht klar und strukturiert?

Und zweitens: Wie ist die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung ? Die Schüler wurden befragt: „Wie geht es dir mit dem Lehrer? Fühlst du dich unterstützt? Fühlst du dich akzeptiert, anerkannt? Wirst du bewertet nach dem, was du selbst leisten kannst, also nach deiner eigenen Veränderung, oder wird einfach die soziale Bezugsnorm auf dich angewandt?“

Diesen letzten Aspekt kann man mit der Theorie der Motivationspsychologen Edward Deci und Richard Ryan [3] untermauern, die besagt: Schüler und Schülerinnen oder generell Menschen fühlen sich motiviert, sind interessiert an einer Sache, wenn sie die Gelegenheit haben, drei Dinge zu erleben: 1. Ich bin kompetent, 2. Ich bin autonom, ich habe also Handlungsfreiheit, und 3. Ich bin sozial eingebunden, ich werde akzeptiert, und ich bin in einer Gruppe, in der ich gemeinsam lernen kann. Das sind die drei Kernelemente von Motivationsunterstützung in der Schule, die sich in vielen Studien bestätigt haben. Und Kompetenzerleben, Autonomieerleben, soziale Einbettung sind die Kernfaktoren für Motivation, die auch leistungsrelevant ist.

Übrigens haben Deci und Ryan im Experiment gezeigt, dass diese Motivation untergraben werden kann, wenn zu viele externe Standards eine zu starke Rolle spielen. Sie haben Unterrichtsexperimente gemacht und einer Gruppe von Lehrern vorgegeben: „Arbeite nach einem Standard (in diesem Fall einem Leistungsstandard): Test X wird angewandt. Du musst hier ein bestimmtes Durchschnittsniveau erreichen!“ Den anderen Lehrern wurde gesagt: „Fördere deine Schüler optimal!“ In den Dimensionen Autonomie, Kompetenz und soziale Einbettung gab es bei der Standardorientierung einen Rückschritt.

Nun noch einige weitere Punkte, die den Lehrer D von Lehrerin C unterscheiden: Er ist klarer, er hat höhere Denkanforderungen. Dies wurde von geschulten Beobachtern eingeschätzt. Und er geht anders mit Hausaufgaben um. Das ist eine Information, die wir von Schülern bekommen haben. Wir haben mit einer Fragebogenskala die kognitive Aktivierung am Beispiel der Hausaufgaben erfasst. Die Schüler sollten sagen, in wie weit ihr Lehrer, ihre Lehrerin auf Fehler eingeht, sich dafür interessiert, wie sie die Hausaufgaben gelöst haben, ob er/sie es toll findet, wenn sie neue Lösungswege gefunden haben, ob er/sie auch solche Aufgaben stellt, bei denen man etwas Neues finden kann und bei denen man nachdenken muss und ob ihr Lehrer auch bereit ist, eine individuelle Bezugsnorm bei der Bewertung zu akzeptieren, d. h., ob er es wertschätzt, dass jeder Einzelne sich persönlich anstrengt.

Das nenne ich kognitive Aktivierung : Die Aktivierung des Lehrers D geht über die allgemeine Schüleraktivierung hinaus, die die Lehrerin C auch sehr gut macht. Sie aktiviert die Schüler, indem sie sie in Gruppen arbeiten lässt, indem sie sie interagieren lässt, indem sie viele Fragen stellt, aber sie ist nicht kognitiv herausfordernd. Ihre Aussagen bewegen sich auf einem einfacheren mathematischen Niveau. Sie zwingt die Schüler nicht, aufeinander Bezug zu nehmen und wechselseitig Hypothesen zu testen. Das kann man an der Art, mit Hausaufgaben umzugehen, ablesen. Auf der Skala, auf die ich gerade hingewiesen habe, ist Lehrer D deutlich besser. Er gibt Hausaufgaben, und er nutzt sie in seinem Unterricht als Gelegenheit, mit den Schülerinnen und Schülern über mathematisches Denken ins Gespräch zu kommen: „Wer findet welche Lösungen? Gibt es andere Lösungen?“ Das ist mathematisches Denken, umgesetzt in Argumentationsprozesse, während Lehrerin C genau in dieser Dimension auf einer niedrigeren Stufe stehen bleibt.

Für diese kognitive Aktivierung, die ich ihnen beschrieben habe, für diese Art, Unterricht zu implementierten und für die von mir beschriebene Art der Hausaufgabenumsetzung – dafür möchte ich gerne werben!

Die Unterrichtstheorie , die wir in dem Projekt entwickelt haben und die auf gemeinsamen Vorarbeiten mit Jürgen Baumert u. a. in der TIMSS-Videostudie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung aufbaut, besagt, anders als Sie das in vielen Publikationen oder in Lehrbüchern immer noch nachlesen können: Es ist nicht beliebig, wie Unterricht aussieht. Es gibt in manchen Publikationen immer noch die Botschaft: „Wenn man sich Profile von erfolgreichen Mathematiklehrern oder Mathematikklassen anschaut, finden wir ganz wirre Profilunterschiede. Wir wissen gar nicht richtig, was wirklich zählt.“ Wir wissen schon, was zählt, aber wir müssen berücksichtigen, dass die Grunddimensionen für Unterrichtsqualität unterschiedliche Wirkungen haben.

Wenn wir das berücksichtigen, müssen wir die Bedingungen und deren Wirkungen auf Motivation einerseits und auf kognitives Verstehen andererseits unterscheiden. Dann sehen wir: Es gibt zwei spezifische Unterrichtsmerkmale, die realisiert sein müssen, damit Motivation einerseits, konzeptionelles Verständnis andererseits erreicht wird.

Für Motivation ist das ein „unterstützendes Unterrichtsklima“. Die Schüler müssen das Klima auch in ihrem Lernprozess für sich nutzen, so dass es zu einem Erleben von Kompetenz, Autonomie und sozialer Einbettung führt und damit ihre Motivation steigert.

Für das kognitive Verstehen kommt es auf kognitive Aktivierung in den beschriebenen Facetten an: Mehr argumentieren, mehr auf die Vielfalt von Möglichkeiten eingehen, mit Fehlern umgehen. Darüber setzen manche das Label „sokratisches Unterrichten“. Jemand, der so unterrichtet, sorgt dafür, dass die Schüler den Gegenstand tiefer durchdringen. Das ist ein psychologisches Konzept der Verarbeitungstiefe, das hier immer noch angewandt werden kann und damit auch bessere Leistungen ermöglicht, insbesondere besseres konzeptionelles Verständnis.

Wenn es um Phänomene wie Beweisverständnis geht, die ein konzeptionelles Verstehen voraussetzen und nicht nur ein anwendungsbezogenes Verstehen, zahlt sich kognitive Aktivierung aus. Im Kern steht aber interessanterweise die gute alte Klassenführung, die in der Unterrichtstheorie und auch in der Unterrichtspraxis viel zu sehr in Vergessenheit geraten ist. Schuld daran ist in gewisser Weise das immer noch sehr gute Buch von Jakob Kounin , eine empirische Studie über Unterrichtsführung, die Ende der 60-er Jahre erschienen ist und gerade neu herausgegeben worden ist. [4] Diese Studie ist auf Deutsch erschienen mit dem Titel „Techniken der Klassenführung“. Dies ist ein völliger Fehlgriff in der Übersetzung. Kounin zeigt nämlich gerade, dass man mit Techniken die Klassen nicht führen kann. Er hatte damals als Behaviorist begonnen und wollte herausbekommen, welche Tricks Lehrer verwenden, um auf problematische Schüler zu reagieren. Er wollte nachweisen, wenn ich Trick X oder Y verwende, wenn ich z. B. in 60% der Fälle positiv rückmelde, dann komme ich mit problematischen Schülern gut zurecht. Und er hat festgestellt: So geht es nicht. Es gibt diese Tricks nicht, sondern es gibt viel tiefer liegende Merkmale, es gibt Tiefenstrukturen. Er hat das z. B. beschrieben mit dem Begriff der „Allgegenwärtigkeit“, ein weiterer unglücklicher Ausdruck. Ein Lehrer kann nicht allgegenwärtig sein. Aber die Idee ist, dass eine effiziente Klassenführung primär darin besteht, dass ich mich proaktiv auf potenzielle Störungen einstelle, schnell reagiere und aufmerksam dafür bin. Das hat Kounin „Allgegenwärtigkeit“ genannt, und er hat es auch empirisch erfassen können. Das ist das, was ich mit Klassenführung meine. Klassenführung ist nicht „Techniken anwenden“, sondern Klassenführung ist etwas sehr tief Liegendes. Das kann man schon bei Jakob Kounin nachlesen. Dazu gehören auch Phänomene wie Regelklarheit und gute Strukturierung. Das wäre Unterrichtsqualität, wie sie in der Lehrerbildung umzusetzen ist. Und damit komme ich zu meinen fünf Thesen .

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[3] Vgl. z. B.  Deci, E. L. & Ryan, R. M. (2000). Self-Determination theory and the facilitation of intrinsic motivation, social development and well-being. American Psychologist, 55 (1), 68-78.

[4] Kounin, J. S. (2006). Techniken der Klassenführung. Standardwerke aus Psychologie und Pädagogik – Reprints, Band 3. Münster: Waxmann.