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Fachliche Klärung

Zunächst einmal scheint es klar zu sein, was man unter Fundamentalismus versteht: Eine irgendwie radikale Position, die sich im Falle des religiösen Fundamentalismus auf streng ausgelegte Regeln bezieht und zur Gewalt neigt. Vielfach kommt einem heute zunächst der islamische Fundamentalismus in den Sinn. Doch der Sachverhalt ist sehr viel komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Daher tut man gut daran, den Begriff genau zu definieren und sich seine teilweise widersprüchliche Verwendung in der Fachliteratur und den Medien bewusst zu machen.

Vom Begriff her ist zunächst einmal klar, dass er sich vom Lateinischen fundamentum herleitet, was soviel bedeutet wie Grund, Grundbau, Grundlage. Heute ist der Begriff ein Kampfbegriff – die wenigsten Funda­mentalisten bezeichnen sich heute selbst so. Und doch ist der Begriff als Selbstbezeichnung in den Sprachge­brauch gelangt: Die Fundamentals, wie sie sich selbst nannten, waren eine Gruppe amerikanischer Protes­tanten Anfang des 20. Jahrhunderts, die die Bibel als Grundlage des christlichen Glaubens für unhinterfragbar und irrtumsfrei propagierten.1 Sie verlangten die Rückkehr zu den Fundamenten des christlichen Glaubens, die sie durch die Entwicklungen der Moderne gefährdet sahen. Gemeinsame Grundlage dieser Bewegung war die „kompromisslose Gewissheit, dass die Heilige Schrift die einzige Quelle absoluter Wahrheit sei, und zwar buchstäblich, lückenlos und unfehlbar. Jedes biblische Wort sei präzise und richtig in seiner offensicht­lichen Bedeutung, nicht nur in Bezug auf theologische und moralische Aussagen, sondern auch auf geschicht­liche und wissenschaftliche. Damit wandten sich die in diesem Sinne fundamentalistischen Protestanten nicht nur gegen den aus ihrer Sicht allgemeinen Sittenverfall (Alkoholkonsum, Wettspiel und Prostitution). Sie üb­ten ausgehend von diesem Bibelverständnis auch eine scharfe Polemik gegen die Evolutionstheorie, beson­ders deren Thematisierung an öffentlichen Schulen, gegen Frauenemanzipation, gegen Sozialismus und Ho­mosexualität, atheistische Philosophen (besonders Nietzsche) und gegen deutsche Bierbrauer.2 Die Motive dieser Bewegung leben bis heute im evangelikalen Protestantismus der USA fort. In den Kreisen dieser Evan­gelikalen findet sich ein großer Teil der Wählerschaft Donald Trumps.

Geht man nun von diesem Ursprung des Begriffs aus, der noch heute hochrelevant und prägend ist – keines­wegs nur in den USA – dann wird man für das grundlegende Merkmal des religiösen Fundamentalismus das wortwörtliche Bibelverständnis festhalten. Daraus abgeleitet sieht man aber auch hier bereits die fundamen­talistische Polemik gegen vieles, was man mit dem Begriff Moderne beschreiben kann: Moderne Erkenntnisse der Wissenschaften (keineswegs nur der Naturwissenschaften, sondern eben gerade auch der Bibelwissen­schaften), gesellschaftliche Modernisierungen infolge der Industrialisierung, aber auch der 68er-Bewegung (Frauenemanzipation, Homosexualität) und politisch Antikommunismus.

Wenn man das wörtliche Schriftverständnis als Grundlage religiös-fundamentalistischen Denkens wertet, gibt es dennoch auch Ausnahmen: Insbesondere im Bereich der Pfingstbewegung findet man die Betonung der Geisterfahrung, die letztlich dem wortwörtlichen Verständnis der Bibel über­ge­ordnet wird. Diese Formen kann man als Geistfundamentalismus bezeichnen – im Gegenüber zum Wort­fun­damentalismus. Das Verhältnis dieser verschiedenen Richtungen ist teilweise spannungsreich, sodass eine klare Unterscheidung nötig ist. Wir werden hier aber, wenn es um christlichen Fundamentalismus geht, in erster Linie den Wortfundamentalismus im Blick haben.

Das wortwörtliche Verständnis reicht aber als Kriterium - wie man sieht - nicht aus, um das Phänomen eines religi­ösen Fundamentalismus angemessen zu erfassen. Weitere Merkmale müssen hinzugezogen werden, denn der Fundamentalismus (das gilt für den christlichen wie den islamischen) ist nicht einfach eine zeitlose Erscheinung der Geistesgeschichte. Er ist nur in seinem historischen Kontext zu erfassen – in seiner Wechsel­wirkung mit den Strömungen der Zeit. Viele, wenn nicht die meisten fundamentalistischen Strömungen ha­ben ihren Ursprung in der Hochphase der Industrialisierung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie lassen sich von daher als Reaktionen auf die Moderne lesen. Dass fundamentalistische Strömungen in der Auseinandersetzung mit der Moderne entstehen, heißt weder, dass sie modern, noch dass sie konsequent antimodernistisch sind.

Auf der einen Seite ist religiöser Fundamentalismus insofern eine Antwort auf die Moderne, als ange­sichts der schnellen und verunsichernden Veränderungen der modernen Gesellschaft eine Rückbe­sinnung auf die Grundlagen des Glaubens in einem apologetischen Sinn nachvollziehbar erscheint. Die Frage ange­sichts der Modernisierung ist in allen religiösen Fragen: Was aus der Tradition der Religion ist vereinbar mit der Moderne, was ist unvereinbar, und bezüglich der unvereinbaren Traditionen, was ist davon grund­legend und unverzichtbar. Eine fundamentalistische Antwort auf diese Fragen wird versuchen, die Grundla­gen der Religion grundsätzlich für unverrück- und unhinterfragbar zu erfassen und die dem widersprechen­den Ele­mente der Moderne zu bestreiten bzw. zu bekämpfen. Damit geht oft eine Glorifizierung einer Urge­mein­schaft der jeweiligen Religion einher, die als ideale Gesellschaft der aus fundamentalistischer Sicht ver­derb­ten Moderne entgegensteht. Das fundamentalistische Geschichtsverständnis ist daher meist negativ: Die Ge­schichte der Menschheit ist eine Geschichte des Zerfalls. Um aber die Autorität und Würde Gottes aufrecht erhalten zu können, muss angenommen werden, dass Gott diese verderbte Welt in einer bevorste­henden Endzeit erlösen wird. Häufig wird angenommen, dass dies in einem Kampf zwischen Gut und Böse geschehen wird, an dem die wahrhaft Gläubigen auf der Seite Gottes teilnehmen können. In solchem apoka­lyptischen Kontext liegt nicht selten eine Rechtfertigung von Gewalt im Dienste Gottes. Dieser Dualismus wäre also neben dem Antimodernismus ein weiteres Merkmal eines religiösen Fundamentalismus. Es wäre jedoch zu einfach, den Fundamentalismus als rein antimodernistisch zu beschreiben. Vielmehr ist er eher eine Synthese von Tradition und Moderne, die aus einer dynamischen Auseinandersetzung mit der Moderne erwächst. Riesebrodt leitet aus dieser Auseinandersetzung drei Dimensionen ab, die der Fundamentalismus in der dy­namischen Auseinandersetzung mit der Moderne enthalte: „Gesellschaftskritik, den Entwurf einer idealen Sozialordnung sowie eine heilsgeschichtliche Deutung der Gegenwart:“3 Nicht selten bedient sich der Funda­mentalismus dabei aber gerade der Möglichkeiten der Moderne, wie man es z.B. bei der Propaganda des Islamischen Staates mit allen Mitteln der modernen Medien beobachten kann.

Nun ergibt sich aus dem wortwörtlichen Schriftverständnis des religiösen Fundamentalismus ein Problem: Wörtliche Zitate der Heiligen Schriften sind, jedenfalls, wenn man sie aus ihrem Kontext löst, oft widersprüch­lich, manchmal sogar unverständlich. Es braucht also doch wieder jemanden, der zum einen die Schriftstellen deutet und zum anderen jemanden, der festlegt, welche Stellen überhaupt herangezogen werden sollen. Eine individuelle Deutung ist also im fundamentalistischen Kontext letztlich unerwünscht. Vielmehr braucht es eine Autorität, die aus den Schriftzitaten nun ableitet, was diese für den Glauben und vor allem auch für das Zusammenleben der Gruppe bedeuten (Regeln etc.). Daraus folgt die Notwendigkeit einer autoritären Struktur der fundamentalistischen Gruppe, die in der Regel patriarchal strukturiert ist. Diese Autorität benutzt die Schrift als Legitimation und zugleich als Absicherung ihrer unhinterfragbaren Macht.

Religiöser Fundamentalismus, der aus einem wortwörtlichen Schriftverständnis heraus unter Abgrenzung gegen die Moderne bei gleichzeitiger Idealisierung einer goldenen Vergangenheit auf der Grundlage autori­tärer Strukturen einen Kampf Gut gegen Böse propagiert, funktioniert natürlich nicht in einem dauerhaften Konsens mit der Mehrheitsgesellschaft. Daher grenzen sich die meisten fundamentalistischen Gruppen von der als sündhaft etikettierten Mehrheitsgesellschaft ab.

Aus diesen Darstellungen lassen sich nun sechs Merkmale des Fundamentalismus ableiten, die wir in Form einer Plakette anschaulich angeordnet und in dem Basistext für Schülerinnen und Schüler beschrieben haben.4

 

1 Max deen Larsen: Religiöser Fundamentalismus in den USA. Eine historische Perspektive, in: Clemens Six, Martin Riesebrodt, Siegfried Haas (Hg.): Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globalisierung, Studien Verlag, Innsbruck u.a. 2004. 69-89. 70f.
Matthias Pöhlmann, Christine Jahn (Hg): Handbuch Weltanschauungen. Religiöse Gemeinschaften, Freikirche, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015. S.249ff. (Exkurs: Protestantischer Fundamentalismus).

2 Riesebrodt: Was ist „religiöser Fundamentalismus“? a.a.O. 13-32, vgl. insbesondere 16.

3 Riesebrodt: Was ist „religiöser Fundamentalismus“? a.a.O. 19.

4 Man kann diese Merkmale auch anders aufeinander beziehen, als wir das getan haben. Es gibt auch vollkommen andere Definitionen des Begriffs, z.B. bei Wolfgang Wippermann (ders.: Fundamentalismus. Radikale Strömungen in den Weltreligionen, Herder, Freiburg im Breisgau 2013), der als religiösen Fundamentalismus allein gelten lässt, wenn Religion zur Ideologie gemacht wird und die Gläubigen mit dieser Ideologie politische Ziele verfolgen. Wippermann grenzt sich damit ausdrücklich gegen die Definition ab, dass Fundamentalismus dann vorliege, wenn eine Gruppe Kernaussagen einer Religion als unhinterfragbar bewahren wolle, wie dies im Zusammenhang des wortwörtlichen Schriftverständnisses geschieht. Dieses wortwörtliche Verständnis wird für ihn erst dann fundamentalistisch, wenn Religion zur Ideologie gemacht werde, das heißt ihren Geltungsanspruch im politischen Kontext einfordere. Für Wippermann weitet sich damit aber der Fundamentalismusbegriff derart, dass für ihn die ganze Vermischung von Staat und Kirche im Mittelalter ebenso fundamentalistisch erscheint wie die Außen- und Innenpolitik der USA. Wippermann wendet sich auch dagegen, Fundamentalismus als Aufstand gegen die Moderne zu fassen, da für ihn z.B. nicht alle antiaufklärerischen Bewegungen gleich als fundamentalistisch gelten können. Wir sind Wippermann in diesem Punkt nicht gefolgt, da aus theologischer Perspektive die religiöse Grundlage fundamentalistischer Bewegungen in dem Beharren auf religiöser Tradition, zumeist in einer wortwörtlichen Deutung einer Schrift liegt. Dass diese in einer Auseinandersetzung mit der Moderne stattfindet, ist keine Frage des Fundamentalismusbegriffs, sondern schlicht eine Beobachtung, die man im Hinblick auf die Geschichte des Fundamentalismus machen kann.

 

Unterrichtssequenz: „Fundamentalismus: Wann wird Religion zur Gefahr?“: Herunterladen [docx][56 KB]

Unterrichtssequenz: „Fundamentalismus: Wann wird Religion zur Gefahr?“: Herunterladen [pdf][229 KB]

 

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